Das Rad der Zeit 0. Das Original: Der Ruf des Frühlings. Die Vorgeschichte (German Edition)
Schrittes, ohne Zögern.
»Vater, ich liebe dich«, sagte sie ruhig. Beim Licht, wie konnte sie ruhig bleiben? Aber sie musste es. »Bitte richte Mutter aus, dass ich sie aus ganzem Herzen liebe.«
Sie hinkte an ihm vorbei auf den zweiten Stern zu. Sie glaubte, dass er etwas hinter ihr herrief, dass er ihr nachgerannt kam und an ihrem Ärmel zupfte, aber ihr Bewusstsein wurde von der Anstrengung getrübt, ein regloses Gesicht und einen gleichmäßigen Schritt beizubehalten. In Wirklichkeit war es ein Stolpern, aber sie bewegte sich weder zögerlich noch eilte sie. Sie trat unter dem Stern zwischen die Säulen, und …
… taumelte in einen runden weißen Raum hinein, in dem das reflektierte Licht der Kandelaber sie blendete. Die Erinnerungen brachen über sie herein und ließen sie um ein Haar in den Knien einknicken. Zu keinem Gedanken fähig, während die Flut sie übermannte, brachte sie noch drei weitere Schritte zustande, bevor sie taumelnd zu stehen kam. Sie erinnerte sich an alles, an die Herstellung eines jeden Gewebes, wo jede Verletzung herkam. An alle ihre Fehler, ihre verzweifelten Bemühungen, so etwas wie einen äußeren Anschein von Ruhe zu bewahren.
»Es ist getan«, intonierte Merean und klatschte laut in die Hände. »Nie soll jemand über das sprechen, was hier geschehen ist. Es ist an uns, das Schweigen mit der zu teilen, die es erlebt hat. Es ist getan.« Wieder klatschte sie laut in die Hände, die blauen Fransen ihrer Stola baumelten. »Moiraine Damodred, Ihr werdet die Nacht im Gebet und in der Meditation über die Bürden verbringen, die Ihr morgen auf Euch nehmen werdet, wenn Ihr die Stola einer Aes Sedai anlegt. Es ist getan.« Sie klatschte ein drittes Mal in die Hände.
Die Herrin der Novizinnen raffte die Röcke und ging zur Tür, aber die übrigen Schwestern traten schnell auf Moiraine zu. Alle bis auf Elaida, wie sie bemerkte. Die Stola um die Schultern geschlungen, als würde sie die Kühle spüren, verließ Elaida zusammen mit Merean den Raum.
»Seid Ihr mit der Heilung einverstanden, Kind?«, fragte Anaiya. Eine Handbreit größer als Moiraine, ließen ihre einfachen Züge sie mehr wie eine Bäuerin als wie eine Aes Sedai aussehen. »Ich weiß gar nicht, warum ich frage. Ihr seid in keinem so schlimmen Zustand wie andere, die ich gesehen habe, aber immer noch schlimm genug.«
»Ich … habe bestanden?«, fragte Moiraine erstaunt.
»Falls ein Erröten als Bruch der Selbstbeherrschung gezählt würde, würde niemand die Stola erringen«, erwiderte Anaiya und richtete ihre eigene Stola mit einem Lachen.
Beim Licht, sie hatten alles gesehen! Natürlich, das hatten sie tun müssen, aber sie erinnerte sich an einen verblüffend attraktiven Mann, der sie hochgerissen und heftig geküsst hatte, gerade als sie mit dem dreiundvierzigsten Gewebe begonnen hatte, und ihr Gesicht rötete sich. Das hatten sie gesehen!
»Ihr solltet das Kind wirklich Heilen, bevor es umkippt, Anaiya«, sagte Verin. Klein und mit einem verträumten Blick ausgestattet, wirkte sie in ihrer rehbraunen feinen Wolle und der mit braunen Fransen versehenen Stola ziemlich mollig. Moiraine mochte Verin, aber der Anblick ihrer Kleidung in den Händen der Braunen Schwester ließ sie frösteln.
»Das sollte ich wohl tun«, sagte Anaiya, nahm Moiraines Kopf zwischen die Hände und lenkte die Macht.
Diese Verletzungen waren viel schlimmer als die Striemen und Blutergüsse, für die Elaida gesorgt hatte, und diesmal fühlte sich Moiraine in Eis gepackt statt in kaltes Wasser getaucht. Aber als es vorbei war, waren alle Schnitte und Risse und Quetschungen verschwunden. Die Müdigkeit blieb bestehen, erschien sogar noch schwerer als zuvor. Und sie war am Verhungern. Wie lange war sie schon hier unten? Ihr mühsam entwickelter Zeitsinn war völlig durcheinander.
Eine Berührung ihrer Gürteltasche verriet ihr, dass das Buch noch da war, aber mehr konnte sie vor den anderen Schwestern nicht machen. Außerdem wollte sie sich unbedingt wieder anziehen. Aber es gab eine Frage, die sie beantwortet wissen wollte. Ihre Prüfungen waren nicht rein zufällig erfolgt, kein reines Produkt des Ter’angreals . Die ständigen Angriffe auf ihre Schicklichkeit ließen keinen Zweifel übrig. »Die letzte Prüfung war sehr grausam«, sagte sie und hielt darin inne, sich das Kleid über den Kopf zu ziehen. Sie wollte ihre Gesichter beobachten.
»Es darf nicht darüber gesprochen werden, wie grausam es auch war«, sagte Anaiya energisch.
Weitere Kostenlose Bücher