Das Rad der Zeit 12. Das Original: Sturm der Finsternis (German Edition)
Das Gefühl überraschte sie. Sie war zwar nicht herzlos, aber ihre Pflicht lag anderswo, bei Rand al’Thor. Es gab für sie keinen Grund, sich wegen einer Gruppe unbekannter Feuchtländer schlecht zu fühlen. Doch die Zeit, die sie mit ihrer Erstschwester Elayne Trakand verbracht hatte, hatte sie gelehrt, dass nicht alle Feuchtländer weich und schwach waren. Nur die meisten. Es lag Ji darin, sich um die zu kümmern, die sich nicht um sich selbst kümmern konnten.
Aviendha betrachtete die Flüchtlinge und versuchte sie mit Elaynes Augen zu sehen, aber sie tat sich noch immer schwer damit, Elaynes Führungsstil zu begreifen. Es war nicht die simple Führung wie bei einer Gruppe von Töchtern auf einem Raubzug – die geschah instinktiv und effizient. Elayne würde bei diesen Flüchtlingen nicht nach Anzeichen von Gefahr oder verborgenen Soldaten Ausschau halten. Sie würde sich für sie verantwortlich fühlen, selbst wenn es nicht ihre eigenen Leute waren. Sie würde eine Möglichkeit finden, ihnen Lebensmittel zu schicken, würde vielleicht von ihren Truppen ein Gebiet sichern lassen, auf dem sie sich niederlassen konnten – und auf diese Weise würde sie ein Stück dieses Landes für sich selbst erwerben.
Früher hätte Aviendha diese Gedanken den Clanhäuptlingen und Dachherrinnen überlassen. Aber sie war keine Tochter mehr, und das hatte sie akzeptiert. Sie lebte jetzt unter einem anderen Dach. Sie schämte sich dafür, dass sie sich dieser Veränderung so lange widersetzt hatte.
Aber das brachte sie in ein Dilemma. Welche Ehre gab es jetzt noch für sie? Keine Tochter mehr, aber auch noch keine Weise Frau. Ihre ganze Identität hatte in diesen Speeren gelegen, ihr Ich war so sicher in ihren Stahl geschmiedet worden wie der Kohlenstoff, der ihm Stärke verlieh. Seit frühester Kindheit war klar gewesen, dass sie Far Dareis Mai sein würde. Tatsächlich hatte sie sich so früh wie möglich den Töchtern angeschlossen. Sie war stolz auf ihr Leben und ihre Speerschwestern gewesen. Sie hätte ihrem Clan und ihrer Sept bis zu dem Tag gedient, an dem sie schließlich dem Speer zum Opfer fiel und ihr letztes Wasser auf den trockenen Boden des Dreifachen Landes blutete.
Das hier war nicht das Dreifache Land, und sie hatte gehört, wie ein paar Algai’d’siswai darüber spekuliert hatten, ob die Aiel jemals dorthin zurückkehren würden. Ihr Leben hatte sich verändert. Aviendha traute Veränderungen nicht. Man konnte sie weder frühzeitig entdecken noch erstechen; sie waren lautloser als ein Späher und tödlicher als ein Attentäter. Nein, sie würde ihnen niemals trauen, aber sie würde sie akzeptieren. Sie würde lernen, wie Elayne zu handeln und wie ein Häuptling zu denken.
Sie würde Ehre in ihrem neuen Leben finden. Irgendwie.
»Sie sind keine Bedrohung«, wisperte Heirn, der mit den Blutabkömmlingen auf der anderen Seite der Töchter kauerte.
Rhuarc beobachtete die Flüchtlinge aufmerksam. »Die Toten wandeln«, sagte der Clanhäuptling der Taardad, »und Männer fallen zufällig Sichtblenders Bösem zum Opfer, ihr Blut wird verdorben wie das Wasser einer schlechten Quelle. Das könnten arme Menschen sein, die vor dem Krieg fliehen. Oder es könnte etwas anderes sein. Wir halten Distanz.«
Aviendha schaute auf die immer kleiner werdende Reihe der Flüchtlinge. Sie glaubte nicht, dass Rhuarc recht hatte; das waren keine Geister oder Ungeheuer. An denen war immer etwas … falsch. Sie verursachten bei ihr ein Jucken, als würde man sie angreifen.
Trotzdem war Rhuarc weise. Im Dreifachen Land lernte man, vorsichtig zu sein, wo ein winziger Zweig töten konnte. Die Aiel huschten von dem Hügel nach unten zu der Ebene mit dem braunen Gras. Selbst nach vielen Monaten im Feuchtland fand Aviendha die Landschaft seltsam. Hier waren die Bäume hoch und mit langen Ästen versehen. Stießen die Aiel auf Gebiete mit gelbem Frühlingsgras zwischen den abgefallenen Winterblättern, schien es immer so voller Wasser zu sein, dass sie fast damit rechnete, dass die Halme und Blätter unter ihren Füßen platzten. Die Feuchtländer behaupteten, dass dieser Frühling unnatürlich langsam kam, aber er war bereits fruchtbarer als die Heimat der Aiel.
Im Dreifachen Land wäre diese Wiese – und die Hügel, die für Wachtposten und Schutz sorgten – sofort von einer Sept in Beschlag genommen und als Ackerland benutzt worden. Hier war es bloß ein weiteres von tausend unberührten Stücken Land. Wieder lag der
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