Das Rad der Zeit 14. Das Original: Das Vermächtnis des Lichts (German Edition)
eingeschlagen hatte, um die Truppenberichte einzusammeln. Es war schon beunruhigend, wie schnell es passieren konnte, eben noch eine Machtposition zu haben, um dann wie eine Ratte durch das eigene Lager schleichen zu müssen. Plötzlich nicht mehr die Macht lenken zu können veränderte so viele Dinge.
Meine Autorität kommt nicht von meiner Fähigkeit, die Macht lenken zu können, sagte sie sich. Meine Stärke liegt in Kontrolle, Verstehen und Sorgfalt. Ich werde diesem Lager entkommen, und ich werde weiterkämpfen.
Sie wiederholte die Worte und schüttelte das schleichende Gefühl von Hilflosigkeit ab – das Gefühl der Verzweiflung über so viele Tote, das Kribbeln zwischen ihren Schulterblättern, als würde sie jemand in der Dunkelheit beobachten. Licht, die arme Leane.
In ihrer Nähe prallte etwas auf dem Boden auf. Ihm folgten zwei weitere Steinchen. Anscheinend wollte sich Gawyn nicht auf eines verlassen. Sie huschte zu den halb verbrannten Überresten eines Zeltes; Stücke der Plane hingen noch immer von den Pfosten.
Sie ging in die Hocke. In diesem Augenblick bemerkte sie, dass nur wenige Zoll von ihr entfernt die verbrannte Leiche eines Soldaten auf dem Boden lag. Ein Blitz aus den brodelnden Wolken über ihr enthüllte ihn als Shienarer, obwohl er das Symbol der Weißen Burg auf dem Hemd trug. Eines seiner Augen stand offen und starrte stumm zum Himmel, während die andere Kopfseite bis auf den Knochen verbrannt war.
Ein Licht erschien aus der Richtung, die sie eingeschlagen hatte. Angespannt wartete sie, während zwei Wächter mit einer Laterne näher kamen. Sie sprachen kein Wort. Als sie abbogen, um nach Süden zu gehen, konnte Egwene auf dem Rücken ihrer Rüstung eingeritzte Symbole ausmachen, die den Tätowierungen entsprachen, die sie zuvor bei den Sharanern gesehen hatte. Die Markierungen waren ziemlich extravagant gewesen, und so vermutete sie, dass diese Männer vermutlich einen niedrigen gesellschaftlichen Rang bekleideten.
Das System bereitete ihr Unbehagen. Eine Tätowierung konnte man jederzeit anbringen, aber ihr war keine Möglichkeit bekannt, wie man sie wieder entfernte. Wenn die Tätowierungen immer komplizierter wurden, je tiefer man in der Gesellschaftsordnung stand, dann bedeutete das, dass Leute zwar stürzen, aber niemals aufsteigen konnten, falls sie in eine niedrige Position hineingeboren wurden oder in Ungnade fielen.
Sie spürte die Machtlenkerin hinter ihr nur Sekunden, bevor eine Abschirmung zwischen sie und die Quelle schnappte.
Egwene reagierte sofort. Sie ließ dem Entsetzen keine Zeit, sich ihrer zu bemächtigen; sie zog das Gürtelmesser und fuhr zu der Frau herum, die sie hinter sich herankommen spürte. Sie stach zu, aber ein Gewebe Luft packte ihren Arm und hielt ihn fest; ein weiteres füllte ihren Mund und knebelte sie.
Egwene wehrte sich, aber ein weiteres Gewebe ergriff sie und riss sie in die Luft. Das Messer fiel aus ihren zuckenden Fingern.
In der Nähe erschien eine Lichtkugel, ein sanftes blaues Licht, das wesentlich gedämpfter als das jeder Laterne war. Sie war von einer dunkelhäutigen Frau mit sehr feinen Zügen gewebt worden. Zierlich. Eine kleine Nase, ein schlanker Körper. Sie erhob sich aus der Hocke, und Egwene erkannte, dass sie ziemlich groß war, fast so groß wie ein Mann.
»Du bist ein gefährliches kleines Häschen«, sagte die Frau, und ihr wuchtiger, gefühlloser Akzent erschwerte es, sie zu verstehen. Sie betonte die Worte an den falschen Stellen und sprach viele Laute auf eine sehr merkwürdige Weise aus. Die Tätowierungen auf ihrem Gesicht glichen zerbrechlichen Zweigen und führten vom Nacken zu den Wangen. Sie trug ebenfalls eines dieser hufeisenförmigen Gewänder, das völlig schwarz war; eine Handspanne unterhalb des Halses waren weiße Riemen angebracht.
Die Frau berührte ihren Arm an der Stelle, wo Egwenes Messer sie beinahe getroffen hätte. »Ja«, sagte sie, »sehr gefährlich. Nur wenige Ayyad würden so schnell nach dem Dolch greifen, statt nach der Quelle. Du bist gut ausgebildet worden.«
Egwene kämpfte gegen ihre Fesseln an. Es war sinnlos. Sie saßen fest. Ihr Herz schlug schneller, aber sie war besser als das. Panik würde sie nicht retten. Sie zwang sich zur Ruhe.
Nein, dachte sie. Nein, Panik rettet mich nicht … aber sie könnte Gawyn alarmieren. Sie konnte spüren, dass er irgendwo in der Nähe in der Dunkelheit besorgt war. Mit einer bewussten Anstrengung gestattete sie, dass ihr Entsetzen wuchs.
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