Das Rad der Zeit 6. Das Original: Herr des Chaos (German Edition)
fangen mussten, denn auch der hartgesottenste Maulheld in Caemlyn würde zu den Saldaeanern gelaufen kommen, damit sie ihn festnähmen, bevor die Aiel es tun konnten. Also hielt Vilnar nur ein Auge auf die Straße gerichtet und ließ seine Gedanken schweifen. Er dachte über das Mädchen zu Hause in Mehar nach, die er gerne heiraten würde. Teryanes Vater war ein Händler und wünschte sich vielleicht mehr einen Krieger zum Schwiegersohn, als Teryane sich einen zum Ehemann wünschte. Er dachte über das Spiel nach, das diese Aielfrauen vorgeschlagen hatten: ›Der Kuss der Tochter des Speers‹ klang harmlos, aber da war ein Glitzern in ihren Augen gewesen, dem er nicht ganz traute. Aber hauptsächlich dachte er über die Aes Sedai nach.
Vilnar hatte sich stets gewünscht, einer Aes Sedai zu begegnen, und sicherlich konnte es in diesen Zeiten keinen geeigneteren Ort geben als Caemlyn, es sei denn, er ginge eines Tages nach Tar Valon. Offensichtlich waren überall in Caemlyn Aes Sedai. Er war zum Culains Jagdhund geritten, wo den Gerüchten nach hundert von ihnen sein sollten, aber er hatte sich im letzten Moment doch nicht überwinden können hineinzugehen. Ein Schwert in Händen, ein Pferd zwischen den Knien und Männer oder Trollocs vor sich gaben ihm Zuversicht, aber der Gedanke an Aes Sedai machte ihn befangen. Außerdem hätte das Gasthaus keine Hundert Frauen bewirten können, und die Mädchen, die er sah, waren wahrscheinlich keine Aes Sedai. Er war auch zur Rosenkrone gegangen, hatte das Gasthaus von der anderen Straßenseite aus beobachtet, aber er war sich nicht sicher, dass auch nur eine der Frauen, die er gesehen hatte, eine Aes Sedai war, und das machte ihn sicher, dass sie es nicht waren.
Er blinzelte einer dünnen Frau mit breiter Nase zu, die aus einem großen, wohl einem Kaufmann gehörenden Haus trat. Sie blieb zunächst stirnrunzelnd auf der Straße stehen, bevor sie einen breitkrempigen Strohhut aufsetzte und davoneilte. Vilnar schüttelte den Kopf. Er hätte ihr Alter nicht benennen können, aber das allein genügte nicht. Er wusste, wie man eine Aes Sedai erkennt. Jidar hatte behauptet, sie seien so wunderschön, dass sie einen Mann mit einem Lächeln töten könnten, und Rissen beharrte darauf, dass sie einen Fuß größer wären als jeder Mann. Vilnar wusste, dass man sie am Gesicht erkennen konnte, an dem alterslosen Gesicht einer Unsterblichen. Man würde sich unmöglich täuschen können.
Als der Spähtrupp gegenüber dem mit Türmen versehenen, gewölbten Weißbrücken-Tor ankam, vergaß Vilnar die Aes Sedai. Vor dem Tor erstreckte sich die Straße entlang einer der Bauernmärkte, lange, offene Marktstände, die mit roten oder purpurfarbenen Ziegeln gedeckt waren, Pferche voller Kälber und Schweine und Schafe, Hühner und Enten und Gänse und Stände, an denen von Bohnen bis Rüben alles verkauft wurde. Solche Märkte waren üblicherweise eine Kakofonie von Geschrei, aber jetzt herrschte bis auf die Geräusche der Tiere Stille, die die seltsamste Prozession begleitete, die Vilnar je gesehen hatte.
Es war eine lange Reihe Bauern, die jeweils zu viert auf Pferden nebeneinanderritten, anscheinend noch von Wagen gefolgt. Es waren mit Sicherheit Bauern, da sie grobe Umhänge trugen, aber jeder Einzelne von ihnen hatte einen Langen Bogen über den Rücken geschlungen, einen gefüllten Köcher an einer Hüfte und ein Langmesser oder ein Kurzschwert an der anderen. Angeführt wurde die Prozession von einem weißen, rot geränderten und mit einem roten Wolfskopf versehenen Banner vor einer Ansammlung von Menschen, die genauso seltsam anmutete wie die ganze Prozession. Drei Aiel waren dort, natürlich zu Fuß, zwei davon Töchter des Speers, und ein Bursche, dessen hellgrün gestreifter Mantel und grellgelbe Hose ihn als Kesselflicker auswies, nur dass er ein Schwert auf dem Rücken trug. Er führte ein Pferd mit sich, das genauso groß wie ein Nashun-Zugpferd war, mit einem für einen Riesen bestimmten Sattel. Der Anführer schien ein breitschultriger Bursche mit struppigem Haar, einem kurz gestutzten Bart und einer eindrucksvollen Streitaxt am Gürtel zu sein, und neben ihm ritt eine Saldaeanerin mit dunklen, engen, geteilten Röcken, die unentwegt mit äußerst entzücktem Blick zu ihm aufsah …
Vilnar beugte sich im Sattel vor. Er erkannte jene Frau. Er dachte an Lord Bashere, der sich gerade im Königlichen Palast aufhielt. Und er dachte weiterhin an Lady Deira, und sein Herz sank. Sie
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