Das Rätsel deiner Leidenschaft
Pferd für sich satteln lassen. Und das Licht in einem Eckzimmer im Erdgeschoss war nie erloschen, auch nachdem andere Zimmer dunkel geworden waren. War dieser Raum sein Arbeitszimmer? Wo er vielleicht die Karte aufbewahrte?
Am Ende hatten sie aufgegeben, waren zu ihrem Laden zurückgefahren und zu Bett gegangen.
Und jetzt war er hier, nachdem er sich selbst als Einbrecher betätigt hatte.
»Warum sind Sie heute Nacht hier eingedrungen?«, fragte sie, als die Nadel seine Haut durchbohrte und er scharf den Atem einsog. Sabine nahm sich vor, beim nächsten Stich ein wenig sanfter vorzugehen. Es war nicht nötig, ihre Frustration an seiner Haut auszulassen. Von nun an konzentrierte sie sich ganz auf das Vernähen.
Aber Max hob langsam seinen Blick zu ihr, und der Ausdruck in seinen klaren blauen Augen ließ ihr fast den Atem stocken.
»Vielleicht wollte ich ja noch einen Kuss von Ihnen«, sagte er mit einem vielsagenden Lächeln.
Sabine wandte schnell den Blick ab und konzentrierte sich auf seine Wunde. Vielleicht war Behutsamkeit gar nicht angebracht, sondern eher Eile. Max verzog das Gesicht, als sie die Nadel durch sein Fleisch zog. »Wenn das stimmt«, sagte Sabine, »dann sind Sie vergebens gekommen, denke ich.«
»Ach ja?«
»Der Kuss war ... fantasielos.« Sie dachte nicht daran, sich anmerken zu lassen, wie ungemein verwirrend sie ihn fand. »Für meine Begriffe rechtfertigte er wohl kaum einen solchen Ausflug und schon gar nicht mitten in der Nacht. Eine ungestörte Nachtruhe hätten wir sicher beide lohnender gefunden.«
Wieder verzog er das Gesicht, aber sie war nicht sicher, ob ihrer beleidigenden Worte oder ihrer Stiche wegen. Und es kümmert dich auch nicht, ermahnte sie sich. Und auch nicht, dass sie log. Er brauchte nicht zu wissen, dass der Kuss sie mit einem heißen Prickeln durchflutet hatte, das sich bis in ihre Zehenspitzen fortgesetzt hatte. Dass sie ihn sogar jetzt noch schmecken und seine Wärme spüren konnte, als sie vor ihm saß und ihn verarztete.
»Was wissen Sie von meiner Karte?«, fragte er in einem sehr viel strengeren Tonfall als bisher.
Sabine ignorierte ihren nervösen Magen. Es war besser, sich ihre Unruhe nicht anmerken zu lassen. Und nicht nur das; auch ihren Eifer hinsichtlich der Karte musste sie unter Kontrolle halten. Sie brauchten diese Karte. Das Leben ihres Volks und ihrer Familie hing davon ab.
»Jemand hat mir erzählt, Sie besäßen die einzige Karte des legendären Inselreiches von Atlantis«, antwortete sie achselzuckend und brachte einen weiteren Stich an.
Wieder sah er sie an. »Und wer ist dieser Jemand?« Er ließ ihr keine Zeit zu antworten, als er gleich fortfuhr: »Miss Tobias, es ist nicht allgemein bekannt, dass ich diese Karte besitze. Obwohl in gewissen Kreisen sicherlich ...« Er beendete den Satz nicht. »Ich meine, die meisten Sammler interessieren sich eher für Karten existierender Länder, weniger für die irgendeines sagenhaften Kontinents.«
Sabine wartete einen Moment, bevor sie den nächsten Stich anbrachte, weil ihre Hände zitterten. Gott, wie sehr sie dieser Mann verwirrte! Es war kein großes Geheimnis, dass viele Menschen nicht an die Existenz ihres Heimatlandes glaubten, aber diesen Faktor hatte sie in ihrer Lüge nicht bedacht. Max hatte recht. Ein herkömmlicher Kartensammler beschäftigte sich nicht mit Atlantis. Er schätzte detaillierte Karten, deren Genauigkeit mit existierenden Orten verglichen werden konnte. Aber ihr Lügenmärchen ließ sich nicht mehr ändern.
»Ich weiß nicht mehr, wer es mir gesagt hat«, erwiderte sie in einem Ton, von dem sie hoffte, dass er möglichst ungezwungen klang, und lachte kurz auf, um ihre Aussage zu unterstreichen. »Außerdem sammle ich alle möglichen Karten. Ob über Existierendes oder nicht Existierendes. Ich kann mir kein Urteil darüber erlauben, was andere Sammler als erstrebenswert ansehen. Mein Interesse ist nicht das einer Gelehrten. Ich kann nur sagen, dass ich die Karten interessant finde.«
»Würden Sie mir Ihre Sammlung einmal zeigen? Ich habe nämlich auch ein großes Faible für alte Karten«, sagte er.
Die Nadel verrutschte, und Sabine stach ihn ungewollt. »Tut mir leid. Ich fürchte, das ist unmöglich. Ich bewahre die Karten nicht hier auf, weil dies nicht unser Hauptwohnsitz ist.«
»Verstehe.« Er schwieg einen Moment, bevor er wieder das Wort ergriff. »Normalerweise sind Karten, die das Sammeln wert sind, nicht gerade billig.«
»Damit wollen Sie doch wohl
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