Das Rätsel der Fatima
Füßen, und bei jedem Schritt stieg der Duft von feuchter, gesunder Erde auf. Wenn dies der Garten war, in dem Maffeo an ihrem ersten Tag im Haus der Heilung auf sie gewartet hatte, so war es kein Wunder, dass er hinterher so erholt ausgesehen hatte. Die heilenden Kräfte konnte sogar sie spüren, trotz aller Skepsis, mit der sie derartigen esoterischen Phänomenen stets begegnete. Mit jedem Schritt fühlte sie sich ruhiger, mit jeder Pflanze, die sie berührte, fühlte sie sich lebendiger, mit jedem Felsen, den sie sah, fühlte sie sich stärker. Es war einfach unglaublich. Schon nach kurzer Zeit hörte Beatrice auf, über die Wirkung, die der Garten auf sie ausübte, nachzudenken oder sie gar infrage zu stellen. Und nachdem sie den Garten einmal durchwandert hatte, dachte sie an gar nichts mehr. Wenn der Satz »Ich denke, also bin ich« auch in seiner Verneinung stimmte, so hörte sie in diesem Augenblick auf zu existieren.
Beatrice war so in sich und ihre Umgebung versunken, dass sie Tolui nicht bemerkte, bis er direkt neben ihr stand.
»Beatrice?«
Seine Stimme klang so leise und sanft, wie sie es einem Mongolen niemals zugetraut hätte. Vielleicht übte der Garten auch auf ihn seine unwiderstehliche und verzaubernde Wirkung aus.
»Ist etwas passiert? Geht es dem Mann wieder schlechter?«, fragte sie, und sofort schossen ihr Hunderte unangenehmer Komplikationen durch den Kopf. Trotzdem blieb sie dabei erstaunlich gelassen. Was auch geschehen war, es würde sich ein Weg finden, dem zu begegnen.
Sicher eine Wirkung dieses Gartens, dachte sie und nahm sich vor, so bald wie möglich mit Maffeo darüber zu sprechen. Der alte Venezianer kannte sich recht gut aus in der chinesischen Philosophie und im Buddhismus. Vielleicht konnte er ihr erklären, ob dieses Phänomen reiner Zufall war oder ob eine Absicht dahinter stand.
»Nein«, antwortete Tolui. »Jiang Wu Sun geht es gut. Er ist bei Bewusstsein und sogar bereits wieder in der Lage, seinen Dienern Befehle zu erteilen. Er bat mich nur, dich zu fragen, ob es ihm erlaubt ist, etwas Wasser zu sich zu nehmen. Seine Kehle sei so trocken und rau wie altes gegerbtes Leder.«
Beatrice lächelte erleichtert. Eine zentnerschwere Last fiel ihr vom Herzen.
»Ja, natürlich. Es spricht nichts dagegen«, sagte sie. »Aber warum kommst du selbst? Mit dieser Frage hättest du auch einen der Diener zu mir schicken können.«
Tolui senkte verlegen den Blick, und ein zartes Rot färbte die Wangen des jungen Mannes.
»Verzeih mir. Ich weiß, du hast mich gebeten, bei Jiang Wu Sun zu bleiben. Aber es geht ihm wirklich gut, einer der Diener passt auf ihn auf, und ich…« Er sah sie an. Seine hellen Augen glühten förmlich vor Begeisterung, sein hübsches Gesicht strahlte. Und plötzlich ähnelte er auf verblüffende Weise seinem Onkel Dschinkim. »Ich habe so viele Fragen. Ich verstehe nicht, was du getan hast, und schon gar nicht, weshalb du es getan hast. Ich sehe nur, dass ein Mann, der noch vor wenigen Augenblicken dem Tode geweiht war, jetzt auf seinem Lager sitzt und seine Diener wieder herumscheucht, als wäre nichts gewesen. Und das, obwohl Lo Han Chen, der weiseste der Ärzte in meines Vaters Reich, keine Hoffnung mehr für ihn gesehen hat. Bitte, Beatrice, erklär es mir. Warum zum Beispiel…«
Der Eifer des jungen Mongolen war wirklich rührend.
»Später, Tolui. Zuerst müssen wir uns um den Kranken kümmern. Das hat Vorrang.«
Vor allem aber bin ich viel zu müde, um all deine Fragen zu beantworten, fügte sie in Gedanken hinzu.
Tolui war ein hochintelligenter, wissbegieriger junger Mann. Wäre er ein Student im 21. Jahrhundert, er würde ohne Zweifel zu den Besten seines Jahrgangs gehören. Aber gerade deshalb waren seine Fragen auch so anstrengend. Er war zu klug, um sich mit einer lapidaren Antwort zufrieden zu geben. Und für Diskussionen und ausführliche Erklärungen fehlte ihr jetzt einfach die Kraft.
»Gut, das verstehe ich«, sagte Tolui. »Weißt du bereits, wie du Jiang Wu Sun behandeln wirst?«
»Es gibt viele Möglichkeiten, aber ich habe noch keine Entscheidung getroffen«, antwortete sie. »Da ist vieles zu bedenken.«
Schon im nächsten Augenblick schämte sie sich. Diese Worte kamen ihr so glatt und leicht über die Lippen. Es war die allseits unter Ärzten übliche Floskel, mit der man Patienten und Angehörige beruhigen, Kollegen vertrösten und Chefs besänftigen konnte. Im Stationsalltag wendete man sie tagtäglich an, verschaffte
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