Das Rätsel der Fatima
war. »Natürlich wird es dieses perfekte Reich niemals geben, wenn jeder so denkt wie du. Wenn jeder davon ausgeht, dass ohnehin nur alles beim Alten bleibt und Veränderungen unmöglich sind, wird sich auch nie etwas ändern. Khubilais Einstellung zeugt von Mut. Ich bewundere ihn dafür. Während alle um ihn herum den Kopf in den Sand stecken, versucht er wenigstens, etwas zu bewegen.«
Dschinkim sah Beatrice mit einem wehmütigen Blick an.
»Du bist noch nicht lange hier, du verstehst es vielleicht noch nicht. Aber Chinesen und Mongolen sind zwei verschiedene Völker, so unterschiedlich in ihrer Lebensweise und ihren Vorstellungen, wie zwei Völker nur sein können. Niemals, nicht einmal in Hunderten von Jahren wird es gelingen, die tiefe Kluft zu überwinden, die unsere Völker voneinander trennt. Und da wird auch Taitu keine Ausnahme bilden. Im Gegenteil, ich fürchte, dass diese Umsiedelung nach Taitu Khubilais Herrschaft sogar zusätzlich schaden wird.«
»Wieso glaubst du das?«
»Sieh dir Taitu an und vergleiche es mit Shangdou. Dies hier ist eine Stadt mit geraden Straßen, eckigen Häusern und quadratischen Plätzen. Die Chinesen können vielleicht so leben, sie sind ein seltsames Volk mit seltsamen, starren Regeln und Grundsätzen. Sie stellen bestimmte Möbel nur in bestimmten Ecken des Raums auf, und wenn sie feiern und tanzen, so ist jede Geste, jeder Schritt seit vielen Generationen genau festgelegt. Aber wir sind Mongolen.« Er starrte auf das vor ihnen liegende Taitu, doch Beatrice hatte den Eindruck, dass er statt der bunten Dächer die zierlichen, fast durchsichtigen Türme Shangdous vor sich sah. Seine Stimme wurde leise. »Das Leben der Menschen und Tiere, der Wandel der Jahreszeiten, sogar die Wanderung der Gestirne am Himmel – alles bewegt sich in Kreisen. So war es schon immer, und so wird es sein bis zum Ende aller Tage. Deshalb sind auch die Jurten der Mongolen rund, deshalb verwenden wir runde Schilde, wenn wir in den Kampf ziehen. Und deshalb wurde auch Shangdou so erbaut – mit runden Türmen, runden Plätzen. Es ist nicht gut, wenn der Mensch aus diesem Kreis des Lebens ausbricht. Es kommt einer Beleidigung der Götter gleich. Die Chinesen spüren das möglicherweise nicht. Sie beten zu anderen Göttern. Vielleicht stören diese die eckigen Formen nicht, vielleicht fühlen ihre Götter sich in den engen Straßen aus Stein wohl. Aber bei uns ist das anders. Bei uns gibt es ein Sprichwort: Die Steppe gibt die Freiheit, die Steppe gibt das Glück. Mit dem Verlassen der Steppe haben wir beides hinter uns gelassen.« Er seufzte. »Wir hätten in Shangdou bleiben sollen. Manchmal glaube ich sogar, wir hätten damals gar nicht erst unsere Jurten verlassen dürfen.«
Betroffen betrachtete Beatrice sein von Sorgenfalten durchfurchtes Gesicht. Dschinkim schien innerhalb weniger Augenblicke um mindestens zehn Jahre gealtert zu sein. Der Konflikt zwischen dem Kreis und dem Rechteck – wo hatte sie nur schon mal davon gehört oder gelesen? Natürlich, Tahca Ushte, Medizinmann der Sioux. Der alte Indianer hatte im Gespräch mit einem österreichischen Journalisten fast die gleichen Worte benutzt. Ihm zufolge hielten die Indianer am Kreis fest, weil dieser den Lauf des Lebens und der Natur symbolisierte, während die Weißen allem eine rechteckige Form gaben, die so in der Natur nicht existierte. Kreis und Rechteck. Erstaunlich, wie treffend und einleuchtend diese einfachen geometrischen Symbole einen kulturellen Konflikt erklären konnten, an dessen Grundlagen sich Generationen von Historikern und Ethnologen habilitiert hatten.
»Die Chinesen werden durch Taitu an Stärke gewinnen, aber uns wird diese Stadt schwächen. Wir haben dort nichts mehr, das uns Kraft spenden könnte – kein Gras, keinen Baum, kein Wild. Nicht einmal mehr die weiche, duftende Erde unter unseren Füßen. Oft frage ich mich, ob wir überhaupt noch unsere Pferde behalten können in dieser engen, stinkenden Stadt mit ihren Straßen aus Stein. Wenn aber ein Mongole von seinem Pferd getrennt wird, was bleibt ihm dann noch, als zu sterben? Das Leben in Taitu wird uns auslaugen und entzweien. Wir werden immer schwächer und hilfloser, bis es den Chinesen gelingt, uns zu überwinden und zu vertreiben.« Er sah wieder in die Ferne. »Wir werden dann nur noch Staub sein. Staub, der vom Wind in alle Richtungen getrieben wird wie die letzten Überreste von Shangdou.«
»Ich glaube, du siehst die Zukunft in einem zu düsteren
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