Das Rätsel der Fatima
von welchem Standpunkt aus man es betrachtete. Und wie sehr sie Ali geliebt hatte, war ihr eigentlich erst klar geworden, als es fast schon zu spät war. Jetzt fehlte er ihr so sehr, dass sie sich wünschte, sie hätten mehr Zeit zur Verfügung gehabt. Beatrice seufzte. Warum musste alles nur immer so kompliziert sein? Sie dachte an die kleine Schriftrolle, die sie von der alten Wahrsagerin bekommen hatte. Was wohl darin stehen mochte?
»Schau, da vorne. Dort am Horizont kannst du die Dächer von Taitu sehen«, sagte Dschinkim. Er hatte sein Pferd gezügelt, sodass sie jetzt nebeneinanderher ritten. »Wir werden bald dort sein. Doch bevor uns der Palast wieder mit seinen Klauen umfängt, wollte ich dich noch um etwas bitten.« Er sah sie an. »Das, was wir miteinander besprochen haben, sollte unter uns bleiben. Rede mit niemanden darüber, nicht einmal mit Maffeo oder Khubilai.«
»Natürlich verspreche ich dir das«, erwiderte Beatrice. »Aber willst du es wirklich vor Khubilai verheimlichen?«
»Ja.« Er wandte seinen Blick wieder zum Horizont, wo die Pagodendächer der Stadt im Licht der winterlichen Sonne glänzten wie bunte, goldeingefasste Juwelen. »Irgendwann, wenn die Gelegenheit günstig ist, werde ich Khubilai einweihen. Aber den Zeitpunkt dafür will ich bestimmen.«
Beatrice widersprach nicht. Dennoch fragte sie sich, wie Dschinkim es anstellen wollte, seinem Bruder diese Angelegenheit zu verheimlichen. Sie kannte Khubilai zwar nicht sehr gut, sie hatte ihn schließlich erst zweimal persönlich getroffen, doch sie hatte den Eindruck gewonnen, dass sich hinter der breiten Stirn des Khans ein scharfer Verstand verbarg, dem nichts von dem entging, was in seinem Reich vorfiel. Und da machte Maffeos Vergiftung sicherlich keine Ausnahme.
Aber das war Dschinkims Angelegenheit. Khubilai war schließlich sein Bruder, nicht ihrer. Sollte er ihn doch besänftigen, wenn er eines Tages wutschnaubend Rechenschaft von ihnen forderte.
Sie kamen Taitu erstaunlich schnell näher. Schließlich zügelten Dschinkim und Beatrice wie auf ein geheimes Zeichen hin ihre Pferde und blieben stehen. Bunt und strahlend schön im Licht der Sonne lag die Stadt vor ihnen. Trotzdem lief Beatrice ein Schauer über den Rücken, und wieder hatte sie den Eindruck, dass irgendetwas nicht stimmte, nicht in das Bild passte.
»Die ›Große Stadt‹«, sagte Dschinkim. Die Art, wie er den Namen aussprach, wirkte verächtlich. »Khubilai hätte sie niemals errichten lassen sollen.«
»Maffeo und Marco erzählten mir bereits, dass du Bedenken gegen den Umzug hattest«, sagte Beatrice. »Warum eigentlich?«
»Taitu wurde von Chinesen geplant und erbaut. Erbaut für einen fremden Kaiser, einen, der nicht aus ihrem Volk stammt. Und der zudem noch Mongole ist, ein Volk, das sie zutiefst verachten und verabscheuen. Deshalb werden sie während ihrer Arbeit die Götter nicht gerade um ihren Segen angefleht haben. Mein Bruder glaubt fest daran, dass eine Stadt in der Mitte des Reiches, von Chinesen erbaut, dem Imperium Festigkeit verleihen könnte. Er hofft, dass sich die Chinesen nun mit seiner Herrschaft arrangieren können. Dass sie ihn als einen der ihren, als ihr Oberhaupt akzeptieren, jetzt, da ihre Stadt die Hauptstadt und der Mittelpunkt des Reiches geworden ist. Ihm schwebt ein Kaiserreich vor, wie es noch nie eines auf dieser Welt gegeben hat. Ein Reich, in dem die Menschen aller bekannten Völker friedlich neben- und miteinander leben und zum gegenseitigen Nutzen voneinander lernen und sich bereichern.«
»Welch eine Vorstellung! Sollte Khubilai das wirklich fertig bringen, würde er das Paradies auf Erden errichten.«
Dschinkim schnaubte verächtlich. »Das ›Paradies‹, so wie ihr Christen es nennt, ist die Aufgabe der Götter. Es ist nicht für die Lebenden bestimmt. Khubilai ist ein Träumer, ein Narr. Ein Reich, so wie es ihm vorschwebt, wird es niemals auf dieser Welt geben, nicht bis zum Ende der Zeiten.«
»Und warum nicht?«, fragte Beatrice. Khubilais Vision von einem friedlichen multikulturellen Staat gefiel ihr so gut, dass sie sie instinktiv gegen Dschinkims Pessimismus verteidigen wollte. Und dass, obwohl sie genau wusste, dass er recht hatte. Khubilai hatte es in seinem Leben nicht geschafft, seinen Traum zu verwirklichen. Und die Kriege und Auseinandersetzungen im 20. Jahrhundert zeigten deutlich, dass die Menschheit der Erfüllung dieses Ideals auch in den folgenden Jahrhunderten keinen Schritt näher gekommen
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