Das Rätsel der Fatima
sich aufhält, stehen niemals Wachen vor der Tür. Das ist das einzige Zugeständnis, das er seinem starrsinnigen Bruder abtrotzen konnte.«
Da offensichtlich kein Diener zugegen war, öffnete Maffeo die Tür selbst. Vielleicht hatten die Diener aber auch das Klopfen überhört, denn lautes Gelächter schallte ihnen entgegen. Feierte der Kaiser mit seinen Kumpanen? Beatrice stellte sich bereits in Leder und Felle gekleidete Männer vor, die sich’ betrunken auf dem Boden wälzten. Doch etwas passte nicht in dieses Bild – da war das Lachen eines kleinen Kindes. Interessiert trat Beatrice ein. Und was sie dann sah, ließ sie wie festgenagelt mitten in der Tür stehen bleiben.
Vor ihnen, auf einem niedrigen, mit Fellen bedeckten Schemel, saß ein älterer Mann. Er hatte entfernte Ähnlichkeit mit dem Kaiser, den Beatrice im Thronsaal gesehen hatte, jenem streng und unbeweglich dreinblickenden Mann in der steifen Robe, vor dem sich alle auf den Boden geworfen hatten. Doch war dies wirklich der Kaiser? Der Mann trug schlichte mongolische Kleidung, und sein Gesicht war überzogen von einer Hundertschaft winziger Lachfalten. Er schaukelte einen kleinen, höchstens vierjährigen Jungen auf seinen Knien. Daneben kniete eine kleine rundliche Frau auf dem Boden.
Ihre Hände lagen auf ihrem Schoß, und auch sie lachte über das ganze runzlige Gesicht. Das Kind jauchzte vor Vergnügen, und der Mann lachte so laut und ansteckend, dass es schwer fiel, nicht einfach in die Heiterkeit mit einzustimmen. Es war eine Szene wie aus einem Bilderbuch, und man konnte nicht feststellen, wem von den dreien es am meisten Vergnügen bereitete.
»Wenn ich den Khan begrüße, verbeugst du dich«, flüsterte Maffeo Beatrice zu.
»Du meinst, das ist…«, fragte sie ungläubig zurück.
»Ja.«
War dies wirklich der große Khan? Dieser Mann dort, der wie jeder liebevolle Großvater auf der Welt, wie ein einfacher Bauer oder Hirte oder Kaufmann mit seinem Enkelkind spielte? Sollte dies derselbe sein, der blutige Feldzüge führte und dessen Namen die Besiegten mit Angst, Terror und Tod gleichsetzten?
»Ich grüße Khubilai Khan«, sagte Maffeo, verneigte sich tief, und Beatrice tat es ihm gleich. »Ich grüße den großen, allmächtigen Herrscher der Mongolen, den Sohn des Himmels, den…«
»Lass gut sein, Maffeo Polo!«, rief der Kaiser aus und warf lachend seinen Enkel hoch. »Das Protokoll hat mich den ganzen Abend wahrlich genug gelangweilt. Es reicht für einen Tag.«
Er fing den Jungen wieder auf, gab ihm einen Kuss auf die Wange und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dann wandte er sich an die Frau und gab auch ihr einen Kuss.
»Wer ist sie?«, fragte Beatrice Maffeo leise.
»Das ist Khubilais Frau.« Er hatte wohl Beatrices Überraschung bemerkt, denn er fuhr fort. »Sie ist natürlich nicht die Kaiserin, die du im Thronsaal gesehen hast. Das war Mei Li, die Tochter eines chinesischen Großfürsten. Khubilai hat sie zu seiner Kaiserin ernannt, um seinen Einfluss auf den chinesischen Adel auszudehnen. Seine ›wahre‹ Frau ist sie.«
Die Alte nahm den kleinen Jungen bei der Hand, und kichernd verschwanden die beiden durch eine Tür in den Weiten des kaiserlichen Palastes.
»Zum Glück sind wir hier nicht in China, Maffeo«, sagte der Khan, als seine Frau und sein Enkel den Raum verlassen hatten. »Wir befinden uns in meinem Haus. Und wenigstens hier ist es mir gestattet, meine Freunde so zu begrüßen, wie ich es will.«
Khubilai stand auf und kam auf sie zu. Beatrice wunderte sich, wie leichtfüßig und geschmeidig sich der Khan bewegte. Dabei musste er bereits an die sechzig Jahre alt sein.
»Sei gegrüßt, mein Freund«, sagte er und ergriff Maffeos Unterarm. »Es ist wahrlich eine lange Zeit her, seit wir das letzte Mal Gelegenheit hatten, miteinander zu reden. Wie geht es dir?«
»Nun, ich…« Maffeo wurde sichtlich verlegen.
»Du brauchst nichts zu sagen, mein Freund. Dir scheint es nicht besser zu ergehen als mir. Die Knie beginnen zu schmerzen, die Hände werden steif, und die Augen versagen allmählich ihren Dienst.« Khubilai lachte. »Ein weiser Mann sagte einmal: Von den Leiden des Alters bleiben nur jene verschont, deren Schicksal es ist, früh zu sterben.« Er legte eine Hand auf Maffeos Schulter. »Wir sollten wieder gemeinsam auf die Jagd gehen; keine Hetzjagd, wie die Jugend sie liebt, nein, ein ausgedehnter, geruhsamer Ritt über die gefrorene Steppe, den Köcher mit Pfeilen auf den Schultern. Und wenn das
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