Das Rätsel der Fatima
Uhrzeit wissen.
Trotzdem wurde Beatrice heiß. Dies war eine Prüfung. Eine Prüfung, die innerhalb weniger Augenblicke über Freiheit oder Gefangenschaft, vielleicht sogar über Leben und Tod entscheiden konnte. Und sie wollte diese Prüfung auf jeden Fall bestehen. Allerdings nicht aus Angst um ihr Leben – wenigstens nicht nur. Nein, es war… Die Erkenntnis traf Beatrice völlig überraschend. Sie wollte Khubilai Khan beeindrucken. Etwas an ihm erinnerte sie an einen Oberarzt, den sie während ihres Studiums bei einer Famulatur kennen gelernt hatte, ein Chirurg, ein wandelndes, fleischgewordenes Lehrbuch, der nur aus einem einzigen Grund zu leben schien – um zu operieren. Sie hatte ihn gemocht, gemocht und bewundert. Sogar sein beißender Zynismus und die zahlreichen anderen Macken hatten sie nicht gestört. Dieser Oberarzt war ihr Vorbild geworden. Vermutlich war er sogar der Grund, weshalb sie sich entgegen der Ratschläge aller Freunde und Verwandten für die Chirurgie entschieden hatte.
»Nein«, sagte sie und sah dem großen Khan direkt in die Augen. Flüchtig schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass es unter Umständen gar nicht erlaubt war, den Khan direkt anzusehen. Vielleicht war bereits das ein Vergehen, das in diesem Land mit dem Tode bestraft wurde. Doch Khubilai schien keinen Anstoß an ihrem Verhalten zu nehmen. Und außerdem, so tröstete sie sich, hätte Maffeo sie sicher zuvor darauf hingewiesen.
»Weshalb beherrschst du dann Arabisch?« – »Ich war eine Frau im Harem des Emirs von Buchara. Dort habe ich diese Sprache gelernt.«
»Im Harem – so, so…« Khubilai wippte auf seinen Zehenspitzen hin und her. »Weshalb bist du nicht mehr in Buchara? Bist du geflohen?«
Beatrice warf Maffeo einen Blick zu. Hatte er dem Kaiser bereits etwas über sie erzählt? Und wenn ja, was hatte er Khubilai gesagt?
»Nein«, antwortete Beatrice und beschloss, so gut wie möglich bei der Wahrheit zu bleiben. »Der Emir machte mich seinem Leibarzt zum Geschenk. Und dieser Arzt hat mich dann kurze Zeit später in die Freiheit entlassen.«
Khubilai hob überrascht seine Augenbrauen. »Er hat dir die Freiheit geschenkt?«, fragte er und betrachtete sie nochmals genau, als würde er einen Makel an ihr zu finden versuchen. »Und das hat er freiwillig getan?« Er schüttelte den Kopf. »Entweder hast du diesen Arzt verhext, oder er war einer von jenen Männern, welche die Gesellschaft ihres eigenen Geschlechts vorziehen.«
Beatrice wurde unsicher. Glaubte ihr Khubilai etwa nicht? Aber was sollte sie dann tun? Sie konnte ihm doch wohl kaum vom Stein der Fatima erzählen.
Aber noch bevor Beatrice sich hilfesuchend zu Maffeo umwandte, warf der Kaiser seinen Kopf in den Nacken und brach in lautes Gelächter aus. Er lachte so sehr, dass ihm die Tränen über die Wangen liefen. Als er sich wieder gefangen hatte, legte er seine Hände auf Beatrices Schultern und drückte sie.
»Sei mir willkommen, Beatrice aus dem Norden des Abendlandes. Mögest du in meinem Palast ein Heim und vor allem aufrichtige Freunde finden.«
Beatrice war sprachlos. Diese schlichte Herzlichkeit, die aus den Worten und dem freundlichen breiten Gesicht mit den vielen Lachfalten sprach, war das Letzte, was sie von Khubilai Khan, dem unerbittlichen Eroberer und Tyrannen, erwartet hätte.
»Ich… ich danke Euch…«, stammelte Beatrice und merkte, dass Maffeo recht behalten hatte – sie mochte Khubilai. Ganz gleich, welche Scheußlichkeiten er auch immer verbrochen hatte oder noch bis zum Ende seines Lebens vollbringen würde – ihr war dieser Mann mit dem ansteckenden Lachen sympathisch.
»Khubilai, ich habe noch eine Bitte«, sagte Maffeo und verbeugte sich. »Beatrice war in ihrer Heimat Arzt, und…«
»Arzt? Eine Frau?«, fragte Khubilai und musterte Beatrice ungläubig. »Du musst dich verhört haben, Maffeo. Wahrscheinlich ist sie eines dieser Kräuterweiber. Die Alten erzählen sich, dass mein Großvater Dschingis Khan, als er fern im Abendland seine Kriegszüge geführt hat, auf Frauen gestoßen ist, die sich auf die Behandlung von Krankheiten mit Kräutern verstanden. Doch in diesen Geschichten waren es ausnahmslos alte Weiber von hässlicher Gestalt und abstoßendem Äußeren, die wie die Geister einsam in dunklen, undurchdringlichen Wäldern lebten. Sie hingegen…«
»Ich bin kein Kräuterweib. Ich bin Chirurgin«, fiel Beatrice ihm ins Wort. Allmählich hörte sie auf, sich über Khubilai zu wundern. Im 21. Jahrhundert
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