Das Rätsel der Fatima
gehabt. So sehr sie sich auch bemüht hatten, die Arbeiter, die das Modell aufgebaut hatten, waren der Wirklichkeit nicht einmal annähernd gerecht geworden.
Allein die Ausmaße der Stadt waren unbeschreiblich. Taitu schien fast das ganze Tal vor ihnen auszufüllen. Von der Hügelkette aus konnte man die großen Gärten und Plätze deutlich sehen, die zu riesigen Tempelanlagen gehörten. Das Bild wurde bestimmt von den chinesischen Pagodendächern. Aber Beatrice konnte auch die fremd anmutenden Kuppeln und Minarette von Moscheen erkennen, Bauten, die sie an indische Tempelanlagen oder jüdische Synagogen erinnerten. Sogar einen Kirchturm entdeckte sie zwischen den im Sonnenlicht schimmernden Dächern. Und über allem thronte leuchtend blau und prachtvoll der kaiserliche Palast wie der wertvollste Saphir in einem Diadem. Khubilai hatte für alles gesorgt. Taitu sollte wirklich eine Stadt für alle werden, ein Pilgerziel für Menschen aller Nationen und Glaubensrichtungen. Trotzdem fühlte Beatrice sich plötzlich unbehaglich, ohne sich erklären zu können, weshalb. Taitu war unbestreitbar eine schöne, eine prächtige Stadt, ein Wunder der Architektur, und dennoch, irgendwie fehlte der fremdartige Charme und der beinahe überirdische Zauber, der Shangdou umgeben hatte. Ein Begriff schoss ihr durch den Kopf – Feng Shui. Vor einiger Zeit hatte sie eine Patientin behandelt, die ihren Lebensunterhalt als Feng-Shui-Beraterin verdiente. Diese Frau hatte ihr, vermutlich, um sie als Kundin zu gewinnen, ein paar grundlegende Dinge über die Prinzipien dieser chinesischen Lehre erzählt und anhand von Beispielen erläutert. Aber warum ihr das gerade jetzt beim Anblick von Taitu einfiel, konnte sie sich nicht erklären. Da war etwas mit blauen Dachziegeln gewesen – aber was? Vielleicht empfand sie auch deshalb eine Abneigung gegen die Stadt, weil eines Tages aus Shangdou Xanadu und aus Taitu Peking werden würde – das eine untrennbar mit Poesie, Märchen und Sehnsucht verbunden, das andere eine Stadt wie jede andere, ein millionengroßer Moloch und Regierungssitz der Kommunistischen Partei Chinas – nicht gerade eine Vorstellung, die zum Träumen anregte.
»Nun, was sagt Ihr, Beatrice?«, fragte Marco, der plötzlich mit seinem Pferd neben Beatrice aufgetaucht war. Vielleicht stand er aber auch schon länger da. Möglich war alles, so zerstreut und geistesabwesend, wie sie seit einiger Zeit war. »Wie gefällt Euch die Stadt?«
»Sie ist sehr schön«, antwortete Beatrice und merkte selbst, was für eine nichtssagende, bedeutungslose Phrase das war. Natürlich war Taitu schön, rein oberflächlich betrachtet. Aber sollte sie Marco von ihrem Gefühl erzählen, das sie beim Anblick der Stadt hatte? Wahrscheinlich würde er sie nur auslachen. Höchstens Maffeo würde sie verstehen können. Und natürlich Dschinkim.
»Noch eine Stunde, dann erreichen wir die Tore von Taitu«, sagte Marco und lachte. »Und dann lernt Ihr die wahren Wunder der Stadt kennen.«
Er gab seinem Pferd einen Tritt in die Flanken, und Beatrice folgte ihm.
»Die Boten sind bereits unterwegs in die Stadt, um deine Ankunft anzukündigen, großer Khan und Gebieter«, sagte Dschinkim und verneigte sich im Sattel.
»Hör auf mit diesem vornehmen Geschwätz«, erwiderte Khubilai. Aber er klang nicht verärgert. Im Gegenteil. Seine Augen funkelten vor Vergnügen. Er schien sich wie ein Kind darauf zu freuen, endlich mit seinem Gefolge in Taitu einziehen zu können. »Sind wir nicht beide Mongolen? Sind wir nicht sogar Söhne desselben Vaters? Also nenn mich nicht nach meinem Amt, sondern bei meinem Namen, mein Bruder.«
Dschinkim betrachtete Khubilai. In mongolischer Kleidung und in aufrechter Haltung auf dem Pferd sitzend, den Bogen und den Köcher mit Pfeilen am Sattel, sah er wirklich nicht aus wie der Khan, der Beherrscher aller Mongolen und Chinesen, sondern wie einer von ihnen, wie ein einfacher Jäger, ein Pferdezüchter, ein Krieger – eben wie ein Mongole.
»Dein Wunsch ist mir Befehl, Khubilai!«
»Du kannst dich immer noch nicht mit dem Gedanken anfreunden, zukünftig in Taitu zu leben, hab ich recht?«
Dschinkim zögerte. Khubilai war zwar sein Bruder, aber er war auch der Khan, der keinen Widerspruch duldete und das Leben jedes einzelnen seiner Untertanen in seiner Hand hatte. Da bildete er, obgleich er der Bruder und Thronfolger war, keine Ausnahme. Und wer konnte schon sagen, welche Stimmen mit ihren Einflüsterungen das
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