Das Rätsel der Fatima
die Rufe der Reisenden, das Klappern der Hufe auf dem Pflaster und das Wiehern und Schnauben der Pferde waren zu hören. Wie die Baumeister von Taitu das Kunststück fertiggebracht hatten, den Lärm der Stadt aus dem Palast auszusperren, war Beatrice ein Rätsel. Aber eines, für das sie dankbar war. Und im Stillen pries sie den ihr unbekannten Baumeister für sein Geschick und sein Genie.
Ein Diener eilte herbei und half ihr vom Pferd. Mühsam befreite sie sich von den Blumen und dem Reis, der sogar bis unter die Kleidung gekrochen war. Die anderen machten es ebenso. Einige schüttelten sich sogar wie nasse Hunde. Innerhalb kurzer Zeit war der Boden mit Blütenblättern und Reiskörnern bedeckt, sodass die Pferde knöcheltief darin versanken und ihr Hufschlag gedämpft war. Die Reismenge, die hier sinnlos am Boden zertreten wurde, hätte sicherlich ausgereicht, Hunderte von Menschen einen Monat lang zu ernähren. Und woher zu Beginn des Winters so viele frische Blumen kamen, konnte sich Beatrice auch nicht vorstellen. Wahrscheinlich hatte sie immer noch nicht den richtigen Begriff von den Ausmaßen der Macht und des Reichtums des Khans.
Als wäre sie lediglich Zuschauerin, sah Beatrice dem Treiben um sich herum zu. Jeder, der eintraf, schien genau zu wissen, was er tun sollte und wohin er gehörte. Sie hingegen kam sich hilflos und überflüssig vor. Deshalb war sie heilfroh, als sie endlich Maffeo zwischen den umherlaufenden Dienern wiederfand. Er wirkte müde und erschöpft und stand genauso verloren und hilflos in der Gegend herum, wie sie selbst sich fühlte.
»Maffeo, wie schön, dich zu sehen. Endlich ein bekanntes Gesicht!«, rief sie aus und trat zu ihm. »Was geschieht jetzt? Worauf warten wir?«
»Wir warten darauf, dass uns jemand unsere Gemächer zuweist«, sagte Maffeo und fuhr sich mit dem Ärmel seines Mantels über die Stirn. Beatrice entdeckte kleine Schweißperlen auf seiner Oberlippe, und irgendwie gefiel ihr seine Gesichtsfarbe nicht. Er war merkwürdig blass. Ob Maffeo krank war? »Gewiss wird der Khan gleich jemanden schicken.«
Na, hoffentlich, dachte Beatrice. Sie war nicht so optimistisch wie Maffeo. Wahrscheinlich hatte der Khan in diesem Augenblick ganz andere Dinge im Kopf, als sich ausgerechnet um die Gemächer von Maffeo und Beatrice zu kümmern. Er würde sie ganz einfach vergessen, und sie konnte es ihm noch nicht einmal übel nehmen. Sie rechnete fest damit, dass sie auf eigene Faust auf die Suche nach einem Quartier für die Nacht gehen würden. Und falls sich nicht einer der anderen Höflinge des alten Mannes und der schwangeren Frau erbarmen würde, müssten sie irgendwo in den Ställen nächtigen. Welch eine tolle Vorstellung, im Stroh zu schlafen, wo bestimmt Tausende abscheulicher Spinnen ihr Unwesen trieben.
»Ich hasse Spinnen«, sagte sie.
»Wie bitte?«, fragte Maffeo und warf ihr einen besorgten Blick zu. »Was hast du gesagt?«
»Onkel! Beatrice!«, erklang plötzlich Marcos Stimme. »Da seid ihr ja endlich! Ich habe euch schon überall gesucht.«
Er hatte bereits seine Reisekleidung gegen höfische Gewänder getauscht und wirkte so frisch und ausgeruht, als wäre er schon vor zwei Tagen in Taitu eingetroffen. Mit weit ausgebreiteten Armen kam er auf sie zu.
»Verehrter Onkel, verehrte Beatrice, willkommen in Taitu, der Hauptstadt des Kaisers«, sagte er, umarmte sie, als hätten sie lange Zeit als vermisst gegolten, und küsste sie auf beide Wangen. »Verzeiht meinen Überschwang, aber ich freue mich wirklich von ganzem Herzen, euch zu sehen. Ich hoffe, ihr habt die Strapazen der Reise gut überstanden?«
»Ja«, sagte Beatrice. Ihre Wangen brannten und kribbelten von seinen Küssen. Dabei waren es nichts als freundschaftliche Küsse. Küsse, wie sie zur Begrüßung unter Südeuropäern üblich waren und die sie selbst bislang verabscheut hatte. »Allerdings dröhnen mir immer noch die Ohren von dem entsetzlichen Lärm da draußen.«
Marco lachte. »Die chinesischen Begrüßungsfeierlichkeiten sind in der Tat recht eigenwillig. Auf diese lautstarke Weise vertreiben die Einwohner von Taitu die bösen Geister und wünschen Khubilai Glück und ein langes Leben. Ein ähnliches Spektakel veranstalten sie auch zum Neujahrsfest zum Ende des Winters. Wenn Ihr erst etwas länger hier seid, werdet Ihr Euch schon daran gewöhnen. Glaubt mir.« Er nahm Beatrices Hand. »Mir ist die Freude und die Ehre zuteil geworden, euch eure Gemächer zuweisen zu dürfen. Wenn ihr
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