Das Raetsel der Liebe
gewann die Oberhand über die Gefühle, die ihre Seele zu zerreißen drohten.
Kühl und distanziert musterte sie ihn, bemerkte die grauen Strähnen in dem dünner werdenden blonden Haar, die Falten auf der Stirn und in den Mundwinkeln. Die Augen hinter den Brillengläsern sahen allerdings noch genauso aus wie damals: ein blasses Grün, wie Meereis, darüber dichte, spitze Wimpern.
»Was wollen Sie?«, fragte sie kalt. Ihre Lippen fühlten sich taub an. »Warum sind Sie hier?«
Er langte in die Tasche seines Jacketts, holte einen gefalteten und versiegelten Brief heraus und drückte ihn ihr in die Hand. »Bitte sehr. Mach ihn jetzt noch nicht auf. Erst, wenn die Umstände günstiger sind.«
Sie versuchte, ihm den Brief zurückzugeben. »Kein einziges Wort will ich lesen von dem, was Sie mir zu sagen haben. Und ich habe Ihnen ebenfalls nichts zu sagen.«
»Und doch fragst du mich, was ich will. Möchtest du es denn nicht wissen?«
Er kam ein wenig näher, und die Luft um sie herum schien dünner zu werden. Lydia zwang sich, nicht vor ihm zurückzuweichen und das Zittern zu unterdrücken, das sie durchlief. Nein, sie wollte es nicht wissen. Ihr graute davor, was es sein könnte.
Sie spürte seinen rasiermesserscharfen Blick, der bis in ihr Innerstes sehen konnte, spürte, wie seine Gedanken kreisten, Plus und Minus abwogen, die Veränderungen abschätzten, welche die Jahre an ihr und in ihr hinterlassen hatten.
»Du siehst gut aus, Lydia.«
»Es geht mir auch gut.«
Ein seltsamer Schleier von Erinnerungen zog durch ihren Geist wie Wolkenfetzen – Dinge, Menschen, Ereignisse, an die sie seit so vielen Jahren nicht mehr zu denken gewagt hatte.
Und dort, ganz vorn, ihre Mutter, eine blasse Gestalt mit abgestumpftem Gesichtsausdruck, in dem schlichten Zimmer des Sanatoriums, umflattert von Nonnen wie schwarzen Vögeln. Ihr einst so wunderschön glänzendes, langes Haar bis fast auf den Schädel abrasiert, die Haut weiß und dünn wie Pergament. Doch das Erste, was Lydia, die sie seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte, auffiel, waren ihre Augen, deren dunkles Blau ihren eigenen so sehr ähnelte.
Es schimmerte immer noch ein Licht darin, schwach und gedämpft zwar, doch nicht vollkommen erloschen. In diesem Moment war ihr klar geworden, worauf ihr Vater und ihre Großmutter all die vielen Jahre lang so sehr gehofft hatten: dass dieses Licht die echte Theodora Kellaway wieder erleuchten könnte, ihr Lachen, ihre Wärme und Herzlichkeit zurückbringen, die Bürde der Krankheit von ihr nehmen, unter der sie langsam erstickte.
Dann schob sich eine andere Frau vor das Bild ihrer Mutter, und Lydia schlang schützend die Arme um sich. Es war eine weichere Gestalt als Theodora Kellaway. Sie duftete nach Äpfeln und Zimt. Ihr braunes Haar war zu einem Zopf geflochten und wie ein Krone um ihren Kopf gelegt. Sie sprach mit leiser, melodischer Stimme, und ihre kaffeebraunen Augen lächelten.
Noch bevor sie die Frage stellte, durchbohrte ein scharfer Schmerz Lydias Brust. Sie krallte die Finger in die Oberarme, als der Name der Frau ihre Lippen durchschnitt wie eine Scherbe zersplitterten Porzellans.
»Greta?«
»
Sie ist tot
«, sagte Joseph Cole tonlos auf Deutsch.
Lydia erstarrte vor Entsetzen. Eine Woge aus Mitleid und Reue überrollte sie, und sie unterdrückte einen Schluchzer, während sie Richtung Wand zurückwich und versuchte, einen Abstand zwischen sich und diesen Mann zu bringen. Noch nicht einmal dieselbe Luft wie er wollte sie atmen.
»W-Wann? Wie?« Eigentlich wollte sie es gar nicht wissen, aber sie musste es fragen, musste die Antwort in sich aufnehmen wie eine Art Strafe.
»Schwindsucht. Vor drei Jahren.«
Lydia kämpfte die Tränen nieder, die in ihr hochsteigen wollten. Sie hasste das Fehlen jeglicher Emotion in Coles Stimme. Und doch wusste sie im selben Moment, dass Greta diesen Mangel nicht bemerkt hätte – dafür war er ihr zu vertraut gewesen.
Es tut mir leid, Greta. Es tut mir so leid …
»Lydia.«
Sie wandte kurz den Kopf. Alexander war wieder auf sie zugekommen, jedoch in einiger Entfernung stehen geblieben. Seine Haltung drückte höchste Anspannung aus. Sie hob eine Hand, um ihn am Näherkommen zu hindern, wobei sie Cole, der vor ihr stand und sie immer noch schweigend betrachtete, keine Sekunde lang aus den Augen ließ.
»Bitte«, flehte sie im Flüsterton, zum einen, weil Alexander es nicht hören sollte, und zum anderen, weil unendliches Bedauern ihre Stimme dämpfte. »Dr.
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