Das Rätsel der Rückkehr - Roman
isst,
sondern wegen der ständigen Angst,
die einem im Bauch rumort.
Ich erinnere mich, die Sonne stach im Genick. Eine staubige baumlose Straße. Wir hatten alle diese ausgemergelten Gesichter (irre Augen und spröde Lippen). Daran erkannte man unsere Generation. Wir trafen uns am Nachmittag in einem kleinen Lokal in der Nähe der Place Saint-Alexandre, mit Blick auf das flache Hinterteil des anarchistischen Dichters Carl Brouard. Obwohl gutbürgerlicher Herkunft, hatte er sich freiwillig im schwarzen Dreck des Kohlenmarktes gewälzt, um das Unglück der Leute aus den Armenvierteln zu teilen. Es gab nicht nur Salonpoeten, die sich um die korrupte Macht scharten.
Wir diskutierten ausführlichst wie absurd
das Leben dieser Poeten war,
doch ohne die allzu deutlichen Bezüge
zu der politischen Situation,
denn in den Armenviertel wimmelte es
vor Spionen im Sold der Präfektur.
Diese Krokodile mit Sonnenbrille
umschlichen die Bordelle,
wo die Politik- und Chemiestudenten verkehrten,
da sie immer die ersten waren,
die auf die Straße gingen.
Seit drei Jahrzehnten mäste ich mich in Montréal,
während man in Port-au-Prince
weiter hungert.
Mein Stoffwechsel hat sich verändert.
Und ich weiß nicht mehr, was
im Kopf eines Jugendlichen von heute vorgeht,
der sich an keinen einzigen Tag erinnern kann,
an dem er
satt geworden wäre.
Mein Hotel befindet sich
inmitten eines Markts.
Ab drei Uhr früh
kommen die Marktfrauen.
Die Lastwagen voller Gemüse werden entladen
und der Lärm stellt sich ein,
manchmal bis elf Uhr nachts.
Stromausfall.
Lesen unmöglich.
Mir gelingt es auch nicht, einzuschlafen.
Ich beobachte durchs Fenster die Sterne,
die mich in meine Kindheit zurücktragen,
damals saß ich mit meiner Großmutter bis in die Nacht
auf der Galerie unseres Hauses in Petit-Goâve.
Ich betrachte meinen armen Körper, ausgestreckt
auf dem Hotelbett, im Wissen,
dass mein Geist durch die
Flure der Zeit vagabundiert.
Endlich finde ich in den Schlaf.
Er ist so leicht,
dass ich das kleinste Geräusch wahrnehme.
Auch den Lärm, den die Touristen machen,
bei der Rückkehr von einer Fete.
Es gibt in diesem Land so wenige Touristen,
dass man sie bezahlen würde, damit sie bleiben.
Spitze Schreie einer Katze, die erdrosselt wird.
Die nächtlichen Trinker lieben
dieses Fleisch gegrillt,
unbekümmert von der angstvollen Stimme,
die überall Mitzi sucht.
Kopfweh.
Da ich nicht schlafen kann,
gehe ich hinaus
setze mich auf die Veranda.
Etwas bewegt sich da oben
Ein kleines Mädchen klettert
den Berg hinauf
mit einem Wassereimer auf dem Kopf.
Hier lebt man von der Ungerechtigkeit und frischem Wasser.
Leerlauf
Der junge Mann, der jeden Morgen den Hof kehrt
bringt mir Kaffee und eine Nachricht meiner Schwester.
Sie hatte mich nicht wecken wollen,
aber meiner Mutter geht es schlecht.
Sie hat sich in ihrem Zimmer eingeschlossen
und will niemandem öffnen.
Ich traf alle in bester Stimmung an. Die Schwester umarmte mich tanzend. Was ist los? Nichts. Und die Mutter? Das war heute Morgen, jetzt geht es ihr gut. Weißt du, das kommt manchmal vor. In Montréal ist es mir auch schon passiert, dass ich ohne Vorwarnung in einen Abgrund stürzte und ein paar Stunden später wieder herauskam. In Montréal ist der Feind die Natur draußen, wenn es schon seit fünf Tagen minus 30 Grad hat. Hier ist der Feind im eigenen Inneren und man kann ihn nur selbst besiegen.
Ich höre meine Mutter singen. Einen Schlager aus ihrer Jugend.
Radio Caraïbes
spielt ihn häufig in der Sendung „Lieder von einst“. Meine Schwester flüstert mir zu, dass Mutter sich oft so benimmt nach einem Abstieg in die Hölle.
Marie, ein so einfacher Name,
dass es mir vorkommt,
als teilte ich meine Mutter
mit meinen Freunden im Viertel.
Eigentlich kenne ich keine Erzählung
über meine Mutter als kleines Mädchen.
Es ist nicht ihre Art, von sich zu reden.
Und die Geschichten von Tante Raymonde
drehen sich alle um ihre Person.
Dahinter meine Mutter zu suchen,
war vergebens.
Meine Mutter nimmt nicht teil
am Strom der großen Geschichte.
Aber all die einzelnen Geschichten
sind wie Flüsse, die sie durchströmen.
Sie bewahrt im Innersten ihres Körpers
die Schmerzkristalle aller Leute,
denen ich seit meiner Ankunft auf der Straße begegne.
Leiden
Schweigen
Abwesenheit
Das hat zwar nichts zu tun
mit der lokalen Folklore,
und doch kommt es nicht vor
in den internationalen Medien.
Ghettokämpfe im
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