Das Rätsel der Rückkehr - Roman
Moment an.
Sie interessiert sich dann mehr
für die erschrockene Fliege.
Ich höre Radio.
Seidiges Sprechen wie ein Tuch,
das sich über die Wahrheit breitet, ohne sie ganz zu verdecken.
Wir haben immer etwas zu erzählen,
in einem Land, wo wir nichts haben außer dem Gespräch,
um es mit den anderen zu teilen.
Plötzlich bricht die Musik ab.
Kein Ton.
Leere.
Stromausfall?
Lange Stille im ganzen Viertel.
Dann der Schmerzensschrei der jungen Nachbarin.
Für eine so große Stille
in einer so geschwätzigen Stadt
mussten sehr viele Leute
gleichzeitig verstummen.
Das Radio teilt den Tod
eines jungen Musikers mit.
Das Publikum liebte ihn.
Mein Neffe kannte ihn gut.
Sie hatten eine kurze Zeit
zusammen verbracht
im Herzen eines jungen Mädchens.
Mein Neffe zieht sich in großer Eile um. Meine Mutter schaut bekümmert zu. Ein zerbeulter Chevrolet parkt auf der anderen Straßenseite. Fünf sitzen schon drin. Zwei Mädchen hinten. Mein Neffe schlüpft zwischen die beiden. Sofort verändert sich seine Miene. Der Wagen startet. Im Radio hört man den gerade verstorbenen jungen Musiker singen. Meine Schwester starrt ohne ein Wort vor sich hin. So bekomme ich das Gesicht meiner Mutter zu sehen, wenn ich samstagabends mit den anderen bummeln ging. Wir pflegten uns am Sonntagmorgen bei der Place Saint-Alexandre zu begegnen, die Mutter ging zur Messe, ich kam von einer Fete.
Der Gesang meiner Mutter
Wir sitzen auf der Galerie
vor dem rosa Oleander.
Meine Mutter erzählt sehr leise von Jesus,
der an die Stelle ihres Mannes trat,
als er sie vor fünfzig Jahren fürs Exil verließ.
Von weitem die Stimme einer Händlerin mit billigem Schmuck.
Jede Familie hat einen, der auf dem Gruppenfoto fehlt. Papa Doc hat für die Mittelschicht das Exil eingeführt. Davor war dieses Los einem Präsidenten nach einem Putsch vorbehalten oder einem der wenigen Intellektuellen, der auch politisch agierte.
Ich ließ alle Vorsicht walten,
um meiner Mutter die Nachricht
vom Tod des Vaters mitzuteilen.
Zuerst stellte sie sich taub.
Dann zürnte sie dem Überbringer.
Der Abstand zwischen langer Abwesenheit
und dem Tod ist so gering,
dass ich die Wirkung der Nachricht
auf die Nerven meiner Mutter ernst nehmen musste.
Meine Mutter sieht mich nicht an.
Ich betrachte ihre langen sehr feinen Hände.
Sie spielt mit dem Ehering am Finger,
zieht ihn an und ab,
dabei trällert sie so leise,
dass ich die Worte des Kirchenlieds kaum verstehen kann.
Ihr Blick verliert sich im Gebüsch des Oleanders,
der ihre Erinnerung an Zeiten weckt,
als es mich noch nicht gab.
Die Zeit davor.
Sieht sie ihre Jugend wieder, als sie
noch ein sorgloses Mädchen war?
Ihr verstohlenes Lächeln berührt mich mehr als Tränen.
Ich höre, wie meine Mutter
im Nebenzimmer singt.
Die Nachricht vom Tod meines Vaters
wird ihr endlich bewusst.
Die Prozession der Schmerzen
die leeren Tage
abwechselnd mit dem Glanz des ersten Blicks.
Alles kommt an die Oberfläche.
Der Gesang meiner Mutter,
von dem ich endlich ein paar Worte verstehe,
spricht von Seeleuten in Panik,
von einem aufgewühlten Meer
und von einem Wunder in dem Augenblick,
als alles verloren schien.
Sie hört gewöhnlich Radio an dem kleinen Apparat, den ich ihr vor einigen Jahren schickte. Immer derselbe Gebetssender ist eingestellt. Sie hört nur Predigten und religiöse Gesänge, mit Ausnahme der Musiksendung „Lieder von einst“, bei der die Sänger so hohe Töne erreichen, dass der alte Hund, der unterm Stuhl schläft, jault.
Ich wechsle zwischen dem Hotel
und dem hinter rosa Oleander versteckten Haus.
Meine Mutter ist verwundert, dass ich nicht
zu Hause schlafe.
Ich will ihr nicht vorgaukeln,
wir lebten wieder zusammen,
nachdem sich mein Leben schon so lange
fern von ihr abspielt.
Ich komme in meinen Texten
immer wieder auf sie zu sprechen.
Verbringe mein Leben damit, die kleinste
Wolke auf ihrer Stirn zu deuten.
Auch aus der Ferne.
Tanz der Trauer
Ich ziehe mich an, denke dabei an die Frau,
die sich ihr ganzes Leben um andere kümmerte.
Auch eine Art sich zu verstecken.
Nun zeigt sie sich einmal unverhüllt.
Meine Mutter entblößt in ihrem Leid.
Im Wagen des Freundes, der mich zu ihr fährt, erinnere ich mich daran, dass wir zu Hause keine Musik hörten. Das Radio war für die Nachrichten. Man hörte nichts, als immer die selben Reden zum Ruhm des Präsidenten. Es ging so weit, dass wir uns fragten, ob er nicht selbst all die Schmeicheleien
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