Das Rätsel der Rückkehr - Roman
Vorstadtviertel.
Bilder von Tiga an der Wand. Ein Foto des Dichters Davertige (heller Anzug, schwarze Melone und breites Lächeln) am Eingang. Dieses Lächeln unter Schmerzen eines gealterten Dandys erinnert mich wieder an meinen Vater. Überall liegen die letzten Bücher des Verlags
Mémoire d´encrier
herum: im Bett, unterm Bett, auf dem Kühlschrank, im Badezimmer, sogar auf dem brennenden Backofen, in dem ein Hähnchen
à la créole
brät.
Exil kombiniert mit Kälte
und Einsamkeit.
Da zählt jedes Jahr doppelt.
Meine Knochen sind ausgetrocknet.
Unsere Augen erschöpft von der immer gleichen Kulisse.
Unsere Ohren müde von der immer gleichen Musik.
Wir sind enttäuscht, dass wir so geworden sind
wie wir sind.
Und wir können diese seltsame
Verwandlung nicht begreifen,
die uns, ohne dass wir es merkten, unterlief.
Das Exil in der Zeit ist unerbittlicher
als das Exil im Raum.
Die fehlende Kindheit ist grausamer
als die fehlende Heimat.
Ich bin umgeben von Büchern
sinke um in Schlaf.
Im Traum sehe ich
den Koffer meines Vaters,
er wirbelt durch den Raum.
Und sein strenger Blick
richtet sich langsam auf mich.
Ein letzter Ausblick durch das Fenster des Fliegers.
Die weiße kalte Stadt,
in der ich meine größten Leidenschaften erlebte.
Heute nimmt mich das Eis
fast ebenso ein wie das Feuer.
II
D IE R ÜCKKEHR
Vom Balkon des Hotels
Vom Balkon des Hotels
schaue ich auf Port-au-Prince
nahe der Explosion
an einem türkisblauen Meer.
In der Ferne die Insel La Gonâve
wie eine Eidechse in der Sonne.
Der Vogel der durch mein
Blickfeld fliegt
so kurz – kaum sieben Sekunden.
Jetzt kommt er wieder.
Ist es ein anderer?
Mir völlig egal.
Der junge Mann, der mit so viel Kraft
den Hof des Hotels kehrt,
nicht so wie der Alte gestern,
ist wohl mit den Gedanken woanders.
Das Fegen ist, weil es Zeit lässt zum Träumen
eine subversive Aktivität.
Heute morgen habe ich keine Lust
Césaire zu lesen,
aber sehr wohl einen Lanza del Vasto,
der sich mit einem Glas frischen Wassers
zufrieden gibt.
Ich brauche einen heiteren Mann,
nicht einen Kerl in Wut.
Ich möchte nicht mehr denken.
Nur sehen, hören, fühlen.
Alles aufnehmen, bevor ich den Kopf verliere,
berauscht von der Explosion
tropischer Farben, Gerüche und Aromen.
Es ist so lange her, seit ich
Teil einer solchen Landschaft war.
In diesem Slum namens „Eifersucht“ (wegen der luxuriösen Villen in der Nachbarschaft, was für den hiesigen Humor spricht) ist das kleine Mädchen als erste auf, um Wasser zu holen. Ich schaue ihr durch ein vom Hotelier geliehenes Fernglas nach. Sie klettert wie ein Zicklein den Hang hinauf, einen Plastikkanister auf dem Kopf, den andern in der rechten Hand. Ich hatte sie aus dem Blick verloren, während ich dem Viertel beim Aufwachen zusah. Da ist sie wieder. Das nasse Kleid klebt an ihrem mageren jungen Körper. Der Schnauzbärtige mit Krawatte, der auf der Galerie seinen Kaffee trinkt, verfolgt sie mit den Blicken.
Beobachten wir die Szene genau.
Das Gesicht mit Schnauzer in Großaufnahme
zeigt höchste Konzentration
auf die tanzenden Hüften des Mädchens,
jede Bewegung des geschmeidigen Körpers wird
von seinen kleinen Augen gierig eingesogen.
Die Nüstern beben leicht.
Das Raubtier macht einen Satz.
Pranken krallen sich in den Nacken.
Das Mädchen beugt den Rücken.
Kein Schrei.
Alles ist in seinem
Kopf passiert,
zwischen zwei Schlucken Kaffee.
Ich nehme auf der Veranda Platz,
lege das Fernglas vorsichtig
am Fuß des Stuhles ab.
Angewärmt von der Sonne,
die sich um sechs Uhr früh schon so bemerkbar macht, gleite ich bald
in mal leichten mal tieferen Schlaf.
Ich ersticke fast
am Geruch von warmem Blut,
der mir in die Nase steigt.
Der Schlachter zerstückelt Fleisch
unter meinem Fenster.
Sein Beil pfeift.
Ein roter Bogen in der Luft.
Zicklein mit durchschnittener Kehle.
Das Tier scheint unter Schmerzen zu lächeln.
Seine Augen, ein zartes Grün, finden mich.
Was kann vor dieser Zartheit bestehen?
Sein Nacken knickt
wie ein vom Wind gebeugtes Zuckerrohrfeld.
Hinter mir der Hotelier
lächelt mit den Augen.
Seine lange Erfahrung
des Schmerzes
müsste man in der Schule lehren
in einer Zeit,
wo man alles lernt,
außer wie man sich dem Sturm des Lebens
entgegenstellt.
Der menschliche Fluss
Ich gehe auf die Straße hinunter
um ein Bad im menschlichen Fluss
zu nehmen,
in dem jeden Tag so mancher
ertrinkt.
Die Menge kaut das frische Fleisch
der
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