Das Rätsel der Rückkehr - Roman
Zimmer
Im engen Zimmer meines Neffen.
Bücher auf einem kleinen Regal
neben einem Plakat von Tupac Shakur.
Ich entdecke einen meiner Romane
und einen Gedichtband seines Vaters.
Meine Augen suchen jede Einzelheit,
um zurückzugehen in der Zeit,
den jungen Mann wiederzufinden,
der ich vor meinem überstürzten Weggang war.
Wir sitzen auf dem ungemachten Bett,
schauen einen Dokumentarfilm über bewaffnete Gangs,
die unten in der Stadt einander bekriegen.
Schüsse knallen.
Von Zeit zu Zeit wirft meine Mutter
einen misstrauischen Blick herein.
Im Alter meines Neffen
ist der Tod noch eine ästhetische Frage.
Ein dänisches Fernsehteam bleibt dicht
an den heftigen Gefechten, die seit Monaten
in dem Elendsviertel wüten.
Ein Graffito an einer Mauer zeigt ein Kind mit Hungerbauch,
zahnlosem Mund und einer Waffe,
die mehr wiegt als ein Erwachsener
in diesem Kiez.
Eine junge Französin hat sich
in diesen explosiven Slum eingeschmuggelt.
Großaufnahme von zwei Brüdern, so sensibel
wie Kobras, die sich sonnen.
Jeder ist in seinem Lager der Boss.
Die junge Frau pendelt
zwischen den Brüdern.
Der eine liebt sie.
Sie liebt den anderen.
Eine griechische Tragödie in der
Cité Soleil
.
Bily ist verfolgt von seinem kleinen Bruder,
der gab sich den Namen Tupac Shakur.
So stehen selbst die ärmsten Viertel
der Vierten Welt
im Bann der amerikanischen Kultur.
Ich schaue zu, wie die beiden Brüder
durch die
Cité
stolzieren.
Killer mit schmächtigem Körper.
Ausgemergeltem Gesicht.
Kokain am Fließband.
Überall Waffen.
Der Tod nie weit entfernt.
Ich frage mich, was mein Neffe
über das alles denkt?
Das ist seine Kultur.
Eine neue Generation.
Meine war die der Siebziger Jahre.
Jeder bleibt in seiner Zeit eingeschlossen.
Schon seit einigen Jahren
mordet man hier am helllichten Tag.
Die Nacht ist nicht mehr mit dem Mörder im Bund,
der ein Stern wie die am Himmel sein will.
Um heute diesen Gipfel zu erlangen,
tötet man unvermummt
und bekennt sich zu der Tat in den Fernsehnachrichten.
Die Tontons Macoutes meiner Zeit
versteckten sich hinter ihren getönten Brillen.
Sie waren Serienkiller.
Papa Doc der einzige Star.
Tupac, der junge Boss, der stark an Hektor erinnert,
erobert die Europäerin.
Der Raubtierkuss
auf einer Binsenmatte am Boden
macht alle Kämpfer heiß
diese Nacht in den Mauern der
Cité
.
Tupac hält jetzt politische Reden.
Kutschiert im Auto durch die
Cité Soleil
.
Hält sich für einen echten Leader.
Redet laut und drückt schnell ab.
Kommt dann plötzlich zur Einsicht,
was er wirklich ist: ein Verlierer.
Mit Blick in die Kamera
im Halbdunkel sitzend
sagt Tupac: „Wenn ich aufhöre, bin ich tot,
wenn ich weitermache, bin ich tot.“
Ich spüre, wie mein Neffe zittert,
als befände er sich im selben Dilemma.
Dies ist eine Stadt, wo die Killer
alle jung sterben möchten.
Tupac fällt im Moment des Ruhms
in den Staub der
Cité Soleil
.
Wie sein Bruder Bily.
Beide sterben von der Hand eines schmächtigen Jungen,
der mit dieser Tat aus dem Schatten tritt.
Das Mädchen fliegt mit dem Fernsehteam nach Hause.
Auf der Spule sind Blut, Sex und Tränen.
Alles was der Zuschauer wünscht.
Abspann.
Der angehende Schriftsteller
Mein Neffe möchte ein berühmter Autor werden.
Unter dem Einfluss dieser Rockstarkultur.
Sein Vater ist ein vom Tod bedrohter Dichter.
Sein Onkel ein im Exil lebender Romanschriftsteller.
Zur Wahl stehen nur das Exil und der Tod.
Für seinen Großvater war es der Tod im Exil.
Nur bevor man beginnt
hat man Muße an Berühmtheit zu denken,
denn kaum steht der erste Satz,
bekommt man es zu tun
mit dem gesichtslosen Schützen,
der zuerst auf das Ego zielt.
Später
im bequemen Sessel
am Kamin
kommt der Ruhm
zu spät.
Dann wäre das Ideal
ein Tag ohne Schmerzen.
Die größte Dummheit scheint zu sein
eine Jugend mit der anderen
zu vergleichen.
Die Zeit des einen
mit der des anderen.
Die Lebenslinien
sind Parallelen,
die sich nie kreuzen.
In dem kleinen Zimmer betrachten mein Neffe und ich einander,
ohne uns anzusehen.
Jeder versucht die Präsenz
des anderen in Schach zu halten.
Auf dem kleinen Regal bemerke ich
Bücher von Carter Brown, die mir gehörten.
Um einen Roman zu schreiben, erkläre ich dem Neffen
mit einem verschmitzten Lächeln,
brauchst du vor allem einen guten Hintern,
denn das ist wie der Beruf
einer Näherin
man muss lange sitzen.
Geboten ist auch das Talent einer guten
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