Das Rätsel der Rückkehr - Roman
Religion,
demselben Viertel wie der andere ist.
Die nackt tanzenden Jungen
im Regen, sagte ich mir
auf dem Rückweg ins Hotel,
wollten keinen Erwachsenen in ihrem Spiel.
Der Club der Jugend ist exklusiv.
Eine unbeschwerte junge Frau
Schließlich kam ich zurück ins Hotel, völlig durchnässt, und fand dort meine Schwester mit der Hotelbesitzerin in lebhaftem Gespräch. Ich ging mit ihr hinauf in mein Zimmer, um mich umzuziehen. Sie war nach der Arbeit vorbeigekommen, da meine Mutter sich zu sorgen begann. Sie hatte mich in einem Traum in Gefahr gesehen. Ich meine, das liegt daran, dass ich wieder in ihrem Umfeld bin. Während meiner ganzen Jahre in Montréal habe ich sie nie so besorgt erlebt wie jetzt, da ich in weniger als zehn Minuten bei ihr sein kann. Du irrst dich, sagt meine Schwester, schon seit du weg bist, grämt sie sich wegen dir. Ich gehe morgen bei ihr vorbei. Meine Schwester fällt auf eine kleine emotionale Erpressung meiner Mutter nicht herein. Sie kennt sie zu gut. Sie selbst muss immer um die gleiche Zeit zu Hause sein, sonst setzt die Mutter sich in den Kopf, auf der Suche nach ihr durch die Straßen von Port-au-Prince zu streifen. Ist es möglich, jemanden auf diese Weise in einer Stadt von mehr als zwei Millionen Einwohnern zu suchen? Meine Mutter tut es. Und in neun von zehn Fällen findet sie die Tochter.
Eine meiner Tanten erzählte mir, dass meine Mutter als junge Frau zusammen mit meinem Vater unbeschwert war, ja kapriziös. Gleich nach dem Weggang ihres Mannes verlor sie ihre Stelle. Sie war darauf gefasst, aber dachte stets, sie würde Arbeit in der Privatwirtschaft finden. Doch der Diktator hatte die Grenze zwischen privat und öffentlich verwischt – es gab nur noch die Ära Duvalier. Selbst im Intimleben der Menschen. Duvalier gab uns zu verstehen, dass er sogar mithören konnte, was in unseren Schlafzimmern gesprochen wurde. Alle Bereiche gehörten ihm. Da begann der Abstieg meiner Mutter. Es hat Jahrzehnte der Ängste, Frustrationen, Erniedrigungen und tagtäglichen Schwierigkeiten gebraucht, um aus dieser stolzen und starken Frau den kleinen zerbrechlichen, ängstlichen Vogel zu machen, der sie geworden ist.
Mein Vater wünschte immer, dass meine Mutter zu ihm ins Ausland zieht. Trotz ihres wilden Verlangens, ihn wiederzusehen, wollte sie nicht, dass ihre Kinder im Exil aufwuchsen. Sie wollte uns einen Sinn für unser Land mitgeben. Eines Nachts, als ich bei ihr schlief, hörte ich, wie sie leise sagte, sie würde gern ein letztes Mal sein Gesicht berühren. Die Züge meines Vaters hatten sich ihrer Netzhaut eingeprägt. Was ihr fehlte, war der Körper in seiner Schwere. Sie hat sich fast ein halbes Jahrhundert wacker gehalten, gevierteilt zwischen ihrem Mann, ihren Kindern und ihrem Land. Alles zusammen war ihr nur eine kurze Zeit vergönnt gewesen.
Ich komme mit meiner Schwester nie zu einem wirklich persönlichen Gespräch. Wir verstehen uns zu gut. Ich kann der Kurve ihres Lebens folgen, ohne die Fakten zu kennen, die es bestimmen. Unsere Beziehung schwankt zwischen dieser großen Nähe, die aus unserer Jugendzeit stammt, und der Distanz, aufgezwungen durch das Exil. Ein Gutteil dieses Heiß und Kalt stammt wohl daher, dass wir die Kindheit nicht zusammen erlebten. Sie war mit der Mutter in Port-au-Prince geblieben, während ich zurück zur Großmutter nach Petit-Goâve ging. Wir haben uns die ganze Nacht Geschichten erzählt. Wir nehmen die Dinge unterschiedlich. Sie erzählt, ich analysiere. Ich kann einem zunächst nichtigen Ereignis eine gewisse Bedeutung verleihen, indem ich es mit einer Kette ebenso unwichtiger Ereignisse verknüpfe. Tatsächlich glaube ich, dass die Geschichten weder klein noch groß sind, sondern dass sie alle miteinander in Verbindung stehen. Insgesamt bilden sie eine kompakte harte Masse, die wir kurzgefasst Leben nennen.
Meine Schwester und ich ergänzen uns gut. Das einzige, was wir nie teilen konnten, ist unser Vater. Ich hatte sie immer im Verdacht, dass sie die bewegten Bilder von Vater für sich allein behalten wollte. Wenn einer von uns beiden sich an sein Gesicht erinnert, dann sie, obwohl sie die um ein Jahr Jüngere ist. Ich war in Petit-Goâve in der Zeit, als mein Vater in Port-au-Prince lebte. Er wohnte mit meiner Mutter und meiner Schwester in dem großen Holzhaus in der Avenue Magloire Ambroise. Meine Schwester war drei Jahre alt, ich vier. Sie hat immer behauptet, sie könne sich an die Stimme der Mutter erinnern, während
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