Das Rätsel der Rückkehr - Roman
diese sie stillte. Und ich war immer der einzige in der Familie, der ihr glaubte. Was mich anbelangt, so erinnere ich mich an nichts, außer was mir meine Mutter erzählte. Da ich den hellwachen Sinn für Einzelheiten und die hochfeine Nase meiner Schwester kenne, lege ich meine Hand dafür ins Feuer, dass sie sich an den Geruch meines Vaters erinnert. Wir können über seinen Tod nicht sprechen, da wir sein Leben nicht teilten.
Tante Ninine nimmt mich beiseite. Sie schließt sorgsam hinter mir die Tür zu ihrem Zimmer. Wir stehen beide in der Mitte. Plötzlich greift sie an. Du musst Dany retten. Wovor soll ich mich retten? Ich meine deinen Neffen, du musst Dany retten. Wovor? Du musst etwas für ihn tun. Ich verstehe nicht. Er muss aus diesem Land weg. Das Schicksal unserer Leute entscheidet sich hier. Er ist dreiundzwanzig, aber seine Meinung zählt nicht. Sein Leben gehört ihm nicht. Er muss dringend das Land verlassen, wiederholt meine Tante. Wozu, denke ich bei mir, wenn er dreiunddreißig Jahre später zurückkehrt, wie ich. Meine Mutter tritt ins Zimmer mit einem schelmischen Lächeln. Tante Ninine wechselt sofort zu ihren Krankheitsgeschichten. Meine Mutter spürt dennoch, dass etwas vorgeht, und lässt uns wieder allein. Ich tue, als wollte ich ihr folgen, um dem Rest auszuweichen. Als ich eben aus der Tür treten will, hält Tante Ninine mich am Arm zurück. Etwas sagt mir, wenn die Zukunft meines Neffen Tante Ninine wichtig ist, dann wird das nicht ihr einziges Anliegen sein.
Zachée hat angerufen wegen deines Vaters. Ich habe eine Möglichkeit gesucht, das mit euch zu besprechen. Deine Mutter braucht jetzt deine Unterstützung. Dein Vater war, trotz seines Verschwindens, der einzige Mann in diesem Haus. Auf die Art wirft sie mir meine Abwesenheit der letzten Tage, wenn nicht der letzten drei Jahrzehnte vor. Wie findet man heraus, was in einem Mann vorgeht, der den Kopf verloren hat? Was ich von ihm erben möchte, ist seine Auffassung von sozialer Gerechtigkeit, seine Unnachgiebigkeit gegenüber der Macht, seine Verachtung des Geldes und seine Liebe zu den anderen. Und was bekommt deine Mutter? Das, was sie sich von ihm immer zu bewahren wusste, über den Schmerz hinaus. Wir haben uns lange angeschaut, ohne zu reden. Tante Ninine öffnete mir schließlich die Tür.
Der Motorradkiller
In dem Theater von Port-au-Prince
wird alles direkt gelebt.
Sogar der Tod, der
jeden Moment
auf einer Kawasaki kommen kann.
Ein Tod aus Asien.
Der junge Mann mit Sonnenbrille
auf einer kleinen gelben Kawasaki
knattert um den Platz.
„Ein schlimmes Früchtchen“ bemerkt die Dame,
die neben mir sitzt.
Später erfahren wir,
dass ein junger Motorradfahrer,
ohne zu stoppen,
auf zwei Ärzte schoss,
als sie ihre Klinik betraten.
Hier ganz in der Nähe.
Ein Tod in hohem Tempo.
Der Zeuge (ein Mann um die Sechzig). „Ich war direkt dabei, neben den beiden Ärzten, die miteinander sprachen. Ich hörte ein Motorrad kommen. Ich drehte mich um, schaute, von wo. Peng. Peng. Zwei Kugeln. Die beiden Ärzte lagen am Boden. Einer war am Hals getroffen. Der andere ins Herz. Er hat nicht mal gehalten.
Rasch entsteht ein Auflauf um den einzigen Zeugen der beiden Morde. Die Sanitäter laden geschäftig die Verletzten ein. Der eine ist schon tot. Der am Hals Verletzte hat keine große Chance zu überleben. Seine herbeigestürzte Frau spricht davon, ihn per Hubschrauber nach Miami fliegen zu lassen.
Derselbe Zeuge: „Das bewundere ich, Leute, die ihr Metier beherrschen. Er hat das Tempo kaum gedrosselt! Diese Präzision! Das kann nicht jeder, ganz bestimmt, ich weiß das, weil ich zehn Jahre Motorrad gefahren bin. Es war eine neue Kawasaki. Kompakt, aber zuverlässig. Wenn man natürlich ein Motorrad hat, das ausfällt, hier sieht man das ja ständig, wäre das zu riskant. Es zeigt, wie ernst er seinen Job nimmt.“
Ein Polizist nähert sich. Die Menge rückt von dem Mann weg, der weiter die Präzisionsarbeit des Killers lobt.
Der Polizist: Sie kommen mit mir mit.
Der Zeuge: Warum das?
Der Polizist: Sie scheinen das Milieu gut zu kennen.
Ich glaube, Sie können uns helfen.
Der Zeuge: Ich wohne hier um die Ecke … Ich bin nur ein Motorradfan.
Eine Dame: Er ist vielleicht ein Motorradfan, aber er wohnt nicht hier. Ich lebe seit sechsundvierzig Jahren in dem Viertel und sehe ihn zum ersten Mal.
Der Polizist: Sie kommen mit mir mit.
Der Zeuge: Ich wohne in
Jalousie
, gleich da oben, auf dem Berg.
Die Dame: Alle
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