Das Rätsel der Rückkehr - Roman
das hier ist ihr Erbe. Ein Diktator würde dem nur Legitimität verleihen. Und die Ordnung dient nur dazu, damit sich eine bestimmte Gruppe bereichern kann. Unordnung entsteht, wenn andere Gruppen ihren Anteil verlangen. Sie leben nicht hier? Ich komme aus Montréal. Dort gibt es meines Wissens keinen Diktator. Ja, aber es gibt den Winter. Das ist nicht dasselbe. Natürlich, war nur ein Scherz. Sein Gesicht wird dunkler. Ist der Winter dort so schrecklich? Das muss man selbst erlebt haben. Es ist also subjektiv? Eher demokratisch. Alle leiden darunter. Nicht alle, wer es sich leisten kann, flieht. Genau wie hier, wer die Mittel hat, spürt nicht die Härten der Diktatur. Ich würde gerne mal dorthin reisen. Dorthin reist man nicht. Man geht für eine kurze Zeit hin, und verbringt dort dann sein Leben.
Ich verlasse ihn und hoffe, dass er nie so wird wie die, die er heute anklagt. Denn er hat das nötige Profil. Das Gefühl, dass eine gewisse Klasse ihn verachtet, so großer Geldmangel, dass er nicht mal die dringendsten Bedürfnisse befriedigen kann, dann seine Einsamkeit, denn er wurde früh zum Waisen (leidet außerdem unter sexueller Not), und hinzu kommt die unendliche Lust an schönen Reden. Gar nicht so weit entfernt vom jungen François Duvalier, als er sein Gedicht
Die Schluchzer des Exilanten
schrieb, dessen Grundthema das Ressentiment ist, das später zu seinem politischen Programm werden sollte.
Ich führe meinen Spaziergang fort und versuche, mich auf das Gedicht des Diktators zu besinnen, das ich in der Schule auswendig lernen musste:
„Doch das Schwarz meiner Ebenholzhaut
verschmolz mit den nächtlichen Schatten,
Als ich in jener Nacht, tobend wie ein Irrer,
meine kalte Studentenbude hinter mir ließ.“ 7
Damit ist alles gesagt.
An den Park schließt ohne Übergang ein kleiner Markt an, wo die Teehändlerinnen miteinander Späße treiben, ohne auf die wenigen Kunden zu achten. Eine erzählt eine Sexgeschichte mit den dazugehörigen Gesten. Sie lässt ihren ausladenden Hintern vor dem Gesicht der Jüngsten tanzen, wie um sie zu verspotten. Die anderen schauen, den Kopf an die Teesäcke gelehnt, lachend zu. Immer wieder steigt in die duftende Luft ihr Gelächter auf.
Ein magerer junger Mann versucht, ein langes Gewehr zu laden,
und dabei eine Khakijacke überzuziehen.
Auch sein Freund versieht den Dienst
eines Sicherheitsmannes im Supermarkt
auf der anderen Straßenseite.
Eine Stadt Gewehr bei Fuß.
Verrückt nach Rapmusik.
Liest nur Mangas.
Isst nur Nudeln.
Schweigsam am Tag.
Gesprächig am Abend.
Das ist mein Neffe.
Wir verstehen uns recht bald.
Sein Anblick erinnert mich
an die Zeit, als mich alles aufregte.
Ich vermeide Moralpredigten
stecke ihm lieber ein wenig Geld zu,
wenn seine Mutter es nicht sieht.
Geld ist für die jungen Männer
wie Parfüm für die Mädchen.
Es euphorisiert.
Die junge Frau an der Kasse des kleinen Restaurants bei der Uni lächelt mich ab und zu an. Ein paar Studenten sind dabei, Berge von Reis zu vertilgen. Der alte Kellner nähert sich schlurfend mit unserem Essen. Alle bekommen das gleiche. Wir essen (Huhn in Soße, weißen Reis und Kartoffelsalat) mit gesenktem Kopf. Dazu ein großes Glas Cachiman-Saft. Mein schwarzes Heft griffbereit, in dem ich weiter alles notiere, was sich um mich herum bewegt. Das kleinste Insekt, das mein Blick erfasst.
Was ich an meinem Neffen mag, ist, dass er es nicht eilig hat zu reden. Seit er da ist, hat er den Mund nicht aufgekriegt, aber wenn er es tut, dann richtig. Ist es in dieser Gegend nicht so gefährlich? Manchmal schon. Wenn die Regierung findet, dass es zu ruhig ist, schickt sie Provokateure, die sich als Studenten ausgeben. Wie geht das? Sie kommen eine Woche vor der Polizei. Als erstes bringen sie die Anführer auf ihre Seite. Dann warten sie auf den geeigneten Moment. Wir wissen, dass sie zur Tat schreiten, wenn am Montagmorgen plötzlich Autoreifen im Hof der Uni brennen. Die Regierung schickt dann einen Trupp Polizei, angeblich, um Ordnung zu schaffen. Das Fernsehen spielt auch mit. An den Fenstern postiert, tun die Provokateure so, als ob sie auf die im Park versteckten Polizisten zielen. Am Ende verletzen sie einen oder zwei, aber nie schwer, doch das berechtigt die Truppe anzugreifen. Und fünf Minuten später sind die Panzer da. Und was macht ihr? Früher gar nichts, wir ließen es über uns ergehen. Aber irgendwann haben wir die Strategie kapiert, und ein kleines System erfunden, das im
Weitere Kostenlose Bücher