Das Rätsel der Rückkehr - Roman
nicht. Ihre Frage ist, wie ist es passiert? Wie? Mir war gleich klar, dass sie nicht hören will, welche Hindernisse zu überwinden waren, um mir einen Platz im neuen Land zu erringen, also den ganzen Quark, den man Journalisten erzählt. Sie will wissen, wie ich es erlebte. Sie wartet auf eine Antwort. Ich hatte die Frage lange gemieden, und wenn ich herkam, dann auch, um mich ihr zu stellen. Nur eine Mutter kann verlangen, dass du mit ihr in diesen Abgrund hinuntersteigst.
Ich war vielleicht zehn.
Ich hatte gerade Großmutter verlassen,
um bei Mutter zu leben in Port-au-Prince.
Ein paar Tage schlief ich bei ihr im Bett,
bis man mir eine eigene Matratze kaufte.
Meine Mutter litt unter Zahnschmerzen.
Ich hörte sie ganz leise stöhnen,
aus Angst, mich zu wecken.
Als ich ihr riet, Tabletten zu nehmen,
erwiderte sie, dieser kleine Schmerz
hielte sie davon ab, an einen größeren zu denken.
Meine Schwester kommt von der Arbeit.
Jeder will etwas von ihr.
Sie weicht allem aus, eilt mit einer Zeitschrift
zur Toilette.
Man hört sie umblättern.
Die Familie wartet derweil ungeduldig, dass sie herauskommt,
um sie roh zu verspeisen.
Dieser unstillbare Hunger nach Aufmerksamkeit.
Ich geselle mich zu meiner Mutter auf die Galerie. Sie enthüllt mir ihr Universum, das auf den ersten Blick recht freudlos scheint, sich dann aber als sehr reich erweist. Sie kennt die beiden Vögel, die sich hier nachmittags ein Stelldichein geben, immer um die gleiche Zeit. Die Eidechsen, die sie nach ihren verstorbenen Geschwister benannt hat: Jean, Yves, Gilberte, Raymonde, Borno, André. Tot oder im Exil. Auf diese Art merke ich mir ihre Namen. Sonst vergisst man zuerst den Namen, dann das dazugehörige Gesicht. Damit wäre ein wichtiger Teil ihres Lebens verloren. Sie hat sogar einen Namen für den Wind. Der kleine, sehr sanfte Wind, der kommt, sie in den Mittagsschlaf zu wiegen. Es genügt zu schweigen, um eine neue Welt auftauchen zu sehen. Die kleinsten Dinge werden lebendig. Manchmal beeilt sie sich, um wieder bei ihnen zu sein. Mitunter ist ihr Zorn auf das Leben so groß, dass er ihr diese Illusion verbietet. Dann hütet sie eine Woche lang ihr Zimmer. Danach kommt sie wieder. Und alle sind da, warten auf ihre Rückkehr ohne Anzeichen von Ermüdung. Sie wendet sich mir zu und flüstert, dass sie sich nur zeigen, wenn sie unsere Verzweiflung spüren.
Der Tod von Benazir Bhutto
Benazir Bhuttos Tod überrascht mich auf der Toilette. Das letzte Aufbäumen eines wiederkehrenden Durchfalls. Ich höre aus dem Zimmer nebenan die sich überschlagende Stimme der BBC-Korrespondentin in Pakistan pausenlos den Namen Benazir Bhutto aussprechen. Sobald der Name einer öffentlichen Person mehr als dreimal in einem Satz vorkommt, ist sie gewöhnlich gerade gestorben, und zwar eines gewaltsamen Todes. Noch bevor die Reporterin ihren Bericht beenden kann, höre ich eine Serie neuer Explosionen. Schreie. Sirenen. Ein furchtbares Getöse. Ich kann meinen Platz nicht verlassen, denn mein Durchfall wird gerade wieder schlimmer. Der Lärm der Menge überdeckt jetzt die Stimme der Reporterin. Ich stelle mir vor, dass in diesem Moment an jedem Ort auf der Welt die gleiche Überraschung herrscht, dabei war nichts so vorhersehbar wie ihr Tod.
Merkwürdig, dass gerade der Mittlere Osten
gewissermaßen den Eindruck vermittelt,
als seien in der Politik
die Würfel nicht immer gezinkt.
Dort riskiert man noch sein Leben.
Alles, was man hier aufs Spiel setzt,
ist seine Reputation.
Was mich an dieser blutigen Geschichte
wirklich berührte, ist die Rückkehr
von Benazir Bhutto zu ihrem Begräbnis
nach Larkana,
in das Dorf ihrer Geburt.
Am Ende kehrt man immer zurück.
Tot oder lebendig.
Irgendwo wird man geboren.
Vielleicht bereist man
zufällig die Erde.
Etwas von der Welt sehen, wie man sagt.
Bleibt manchmal weg über Jahre.
Aber am Ende kehrt man zum Ausgangspunkt zurück.
Die hölzerne Kammer.
Nachdem sie das riesige
volkreiche Pakistan regieren wollte,
fühlt sich Benazir sicher beengt da drin
und sehr einsam.
Obwohl sie nach Maß gezimmert ist.
Der Wilde Westen
Auf dem Rückweg zum Hotel begegnete ich fünf Jugendlichen, die unter einem Mangobaum rittlings auf einem Mäuerchen saßen. Sie spielten Cowboy und Indianer. Vor vier Jahrzehnten kam ich zu den Indianern. Wir rannten den Hügel hinab und schwenkten dabei unsere Tomahawks. Die Cowboys erwarteten uns versteckt hinter ihren Planwagen. Im letzten Moment schlugen
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