Das Rätsel der Templer - Roman
Bedürfnis nach gefährlichen Halbwahrheiten entstanden, weil hohe Mitglieder des Ordens sich nicht an
ihr Schweigegebot halten konnten und meinten, sie müssten mit etwas prahlen, was sie selbst nie zu Gesicht bekommen haben.«
D’Ours Miene verfinsterte sich schlagartig, während ihm ein Schnauben entfuhr. »Unseligerweise haben einige dieser falschen
Kopien jenes Baphomet mit dazu beigetragen, dass König Philipp es auf uns abgesehen hat.«
»Wovon sprecht Ihr?«
»Philipp IV. hat seine Witterung aufgenommen. Er glaubt schon seit längerem, all unser Wissen würde einer geheimen Magie entspringen.«
»Ist dieses Haupt etwas Heiliges?«, fragte Gero zögernd, wobei er zugleich die unbestimmte Befürchtung hegte, d’Our könne
ihn für einfältig halten, weil er nichts Genaues darüber wusste. Selbstverständlich war er mit allen religiösen Lehren des
Abend- und des Morgenlandes vertraut. Er hatte die streng geheime Bibel der Katharer gelesen, die in zwei erbarmungslosen
Kreuzzügen fast vollständig vernichtet worden waren, unter anderem, weil sie im Alten Testament den Schöpfergott einer bösen
Welt beschrieben sahen. Und er wusste um das
Sefer Jezira
, einer |27| Ansammlung uralter hebräischer Texte, in denen das Geheimnis der Weltordnung in Zahlen und Buchstaben dargelegt wurde und
die er unter strikter Geheimhaltung für das Scriptorium der Komturei ins Lateinische übersetzt hatte. Ein gefährliches Unterfangen,
weil die christliche Obrigkeit es nicht gut hieß, wenn man sich mit dem geheimen Wissen der Juden beschäftige. Aber bisher
verweigerten ihm all diese faszinierenden Einsichten einen grundlegenden Beweis ihrer Berechtigung.
»Nein«, schmunzelte d’Our. »Wie alles existiert es augenscheinlich mit Wissen des Allmächtigen, doch was seine Wirkungsweise
betrifft, so könnte es vielmehr eine Erfindung des Antichristen sein, obwohl es uns immer wertvolle Dienste geleistet hat.«
»Was meint Ihr damit?« Gero fixierte seinen Komtur, als ob er eine Schlange und d’Our das Kaninchen wäre.
»Ich will mich nicht in Einzelheiten verlieren. Zudem ist es mir nicht erlaubt, Euch über das notwenige Maß hinaus in Kenntnis
zu setzen. Fest steht, es hat uns die Vernichtung des Ordens prophezeit und kann gleichsam zu seiner Rettung beitragen. Doch
bevor wir uns seiner bedienen, müssen wir sicher sein, ob die Prophezeiung auch wirklich eintrifft.«
»Was sollen wir jetzt tun?« Gero vergaß jeglichen Respekt. Er war aufgebracht, und die Hoffnung auf eine halbwegs befriedigende
Antwort, die sein zerstörtes Weltbild wieder in ein anständiges Licht rücken sollte, hatte er noch nicht aufgegeben.
»Der Hohe Rat hat aus reiner Vernunft und gegen den Willen unseres Großmeisters bestimmt, dass wir alle Komtureien mit Ausnahme
der Ordensburgen in Paris und Troyes – dort, wo der Großmeister sich zurzeit aufhält – weitgehend evakuieren, und zwar ohne
Wissen der jeweiligen Bewohner.«
Gero schaute verblüfft auf. »Wie soll das vor sich gehen?«
»Die Ritter der umliegenden Komtureien werden – soweit möglich – zu Aufgaben herangezogen, die sie erst nach Mitternacht zu
ihren angestammten Häusern zurückkehren lassen. Sollte es bis dahin zu einem Übergriff von Philipps Soldaten gekommen sein,
besteht bei der Rückkehr immer noch die Möglichkeit zur Flucht. Die Knappen verbringen wir nach Clairvaux. Mit Ausnahme von
Matthäus. Er wird mit Euch reiten. Das Gesinde verbleibt hier, um keinen unnötigen |28| Verdacht zu erregen und auch, weil wir hoffen, dass es Philipp von Franzien nur auf unmittelbare Angehörige des Ordens abgesehen
hat. Und jetzt komme ich zu Eurer eigentlichen Aufgabe.«
D’Our atmete tief durch und sah Gero ernst an. »Für den Fall, dass die Befürchtungen des Hohen Rates eintreffen, werdet Ihr
Euch unverzüglich in die deutschen Lande begeben. Euer Knappe und die beiden Ordensbrüder Johan van Elk und Struan MacDhughaill
werden Euch begleiten. Matthäus werdet Ihr bei den Zisterziensern in Hemmenrode in Sicherheit bringen. Ich bin sein einziger
noch lebender Verwandter. Er wäre ein zu kostbares Unterpfand für König Philipp, wenn er mich und dazu noch meinen Neffen
zu fassen bekäme.«
Bevor d’Our fortfuhr, trank er noch einen hastigen Schluck, stellte den Becher zur Seite und griff nach einer Karte, die neben
ihm auf einem Stuhl lag. Geschickt entrollte er den erstaunlich genauen Plan.
»Zusammen mit den beiden
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