Das Rätsel der Templer - Roman
heranzukommen.« Tom sah Hannah wieder mit diesem flehenden Dackelblick an, den sie allzu gut kannte und auf den sie
schon des Öfteren hereingefallen war.
»Und das alles soll ich dir so einfach glauben?« Misstrauisch schaute sie ihn an.
»Einstweilen«, flüsterte Tom. Er hob die Hand, als wollte er ihr eine verirrte, dunkelrote Locke aus dem Gesicht streichen,
doch dann überlegte er es sich anders und ließ seine Hand wieder sinken. »Du bist die einzige, die mir als Beistand in dieser
Sache eingefallen ist. Weil ich weiß, dass ich dir vertrauen kann.«
»Und praktischerweise wohne ich sozusagen um die Ecke«, erwiderte sie leicht sarkastisch.
»Hannah«, fing er noch einmal händeringend an, »es tut mir alles so leid … mit uns und überhaupt …«
»Tom, es geht hier nicht um uns. Versprich mir nur, dass ich mich keines Verbrechens schuldig mache bei dem, was ich hier
tue.«
»Ich verspreche es«, erwiderte er treuherzig. »Es sei denn, du wertest reine Hilfsbereitschaft als Verbrechen.«
»Schon gut«, schnaubte sie ungeduldig und ging zurück zu ihrem Schlafzimmer. »Was auch immer die Wahrheit ist, in diesem Haus
scheint es im Moment zwei Menschen zu geben, die dringend Hilfe benötigen, und ich werde die Letzte sein, die sie ihnen verwehrt.«
Aus der untersten Schublade ihrer Kommode kramte sie einen alten, baumwollenen Schlafanzug heraus, der eigentlich einmal ihrem
Vater gehört hatte. Der Junge kauerte unterdessen neben ihrem Kleiderschrank auf dem Fußboden. Halb verdeckt von einer schweren
Samtgardine, beobachtete er regungslos, was mit seinem Begleiter geschah.
Auffordernd hielt sie Tom den Schlafanzug entgegen. »
Den
kannst
du
ihm anziehen.«
»Du wirst mir helfen müssen«, sagte Tom.
Hannah stieß einen Seufzer aus. Also wurde ihr, so absurd es auch erschien, die seltene Ehre zu Teil, einen bewusstlosen Ritter
aus dem |246| 13. oder 14. Jahrhundert auf ihrem Bett zu entkleiden und ihm den Schlafanzug ihres Vaters zu verpassen.
Als Tom die Lederscheide mit dem etwa vierzig Zentimeter langen Dolch zu fassen bekam, pfiff er leise durch die Zähne. Er
zog den Gürtel unter dem schweren Körper mit einigem Kraftaufwand hervor und legte ihn auf den Boden. Vorsichtig löste er
eine Ledermanschette und nahm den Respekt einflößenden Dolch in die Hand. Hannah schrak zurück, als Tom ihr die gut fünf Zentimeter
breite Klinge entgegen hielt, die an ihrem Ende spitz zulief.
»Schönes Brotmesser«, scherzte er und fuhr mit dem Finger die dunkle, metallische Schneide entlang. »Autsch!«, rief er und
zuckte zurück. Reflexartig steckte er sich den Zeigefinger in den Mund und saugte daran.
»Das hast du jetzt davon«, tadelte ihn Hannah. »Leg das Ding weg! Für solche Spielchen haben wir keine Zeit!«
Tom wischte sich den blutenden Finger an seinem Hemd ab und warf das Messer achtlos zum Gürtel unter Hannahs Bett, dann widmete
er sich dem Umhang des Mannes. Umständlich öffnete er den Messingverschluss. Als er damit begann, den dicken Stoff zur Seite
zu ziehen, regte sich etwas in der Ecke neben dem Kleiderschrank.
Der Junge war aufgestanden und machte ein entrüstetes Gesicht. Er sah aus, als wolle er in ihre Richtung stürzen, doch dann
rief er mit einer sich überschlagenden Stimme: »Neinâ, ir ne ensolt dat niht dôn. Ir müzzet ime die hachel lân!« Er verschluckte
sich und begann vor Aufregung zu husten. Dann fuhr er fort: »Et ne enzemet ûh, mînen hêrren zo enblœzen!«
Es überraschte Hannah, dass ihr kleiner Gast so plötzlich zu sprechen begonnen hatte. Sie hatte ihn kaum verstanden, aber
er sprach eindeutig Mittelhochdeutsch. Neben ihrem Germanistikstudium hatte sie drei Semester Mediävistik absolviert und einige
Kurse in Mittelhochdeutsch belegt. Anscheinend hatte Tom die Wahrheit gesagt. Mittelhochdeutsch hatte man in Deutschland mindestens
bis zum Ende des vierzehnten Jahrhunderts gesprochen.
Tom drehte sich überrascht zu dem Jungen um. »Was hast du gesagt?«, rief er ihm zu.
Der Junge verstummte sofort wieder.
|247| »Na los, komm mal her!« Tom hielt einen Moment inne, dann schickte er sich an, zu ihm hinzugehen, doch der kleine Kerl hatte
offenbar den Mut verloren und drückte sich ängstlich in eine Ecke hinter dem Kleiderschrank.
Tom ließ von ihm ab, und gemeinsam mit Hannah schaffte er es schließlich, dem ohnmächtigen Mann den langen Kapuzenmantel auszuziehen.
Damit Tom das schwere Kettenhemd über den Kopf
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