Das Rätsel der Templer - Roman
dem Bett lagen, hervorgeholt und sie auf dem Boden verteilt. Er saß mit dem Rücken zu
ihr vor dem Kleiderhaufen und schien sich an dem Umhang festzuklammern. Seine Schultern zuckten. Er weinte immer noch.
Hannah näherte sich vorsichtig. »He, Matthäus, alles wird gut, du brauchst dir keine Sorgen zu machen, dein Freund wird wieder
gesund, und alles kommt in Ordnung. Ich verspreche es …«
Keine Reaktion. Zögernd streckte sie die Hand nach ihm aus.
|258| »Möchtest du was trinken? Du hast doch sicher Durst?«
Unvorhergesehen sprang er auf und schnellte herum.
Erschrocken wich Hannah zurück. Der schmächtige, harmlos erscheinende Junge hielt den lederumwickelten Griff des langen Dolches
so fest in seiner rechten Faust, dass die Knöchel weiß hervortraten. Die mörderische Klinge direkt auf Hannahs Bauch gerichtet,
ging er langsam auf sie los.
»Ir sîd eine zouberærinne!«, zischte er leise, während er immer näher kam. »Wâ hinne hât ir in gebrâht? Saget et mir ode ir
müzzet sterven!«
Entsetzt wich sie zurück. Ihr Herz hämmerte bis zum Hals. Sie hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit, von einem Zwölfjährigen
erstochen zu werden.
»Matthäus«, sagte sie beschwörend und hoffte, er würde sie verstehen. »Leg das sofort wieder hin, damit kann man einen Menschen
umbringen.«
Zitternd stand sie mit dem Rücken zur Wand. Zu ihrem Unglück hatte sie die Schlafzimmertür nach ihrem Eintreten verschlossen,
und nun gab es kein Entrinnen. Die aufkommende Panik nahm ihr die Sprache. Im Geiste sah sie sich schon aufgeschlitzt auf
dem Boden liegen, massakriert von einem Kind.
Ein Wunder wäre nicht schlecht, dachte sie noch, während sie verzweifelt die Augen schloss und darauf wartete, dass er ihr
das blanke Messer ins Fleisch rammte.
Als es laut schepperte, blinzelte sie vorsichtig. Der Strom war überraschend zurückgekommen und ihr Schlafzimmer hell erleuchtet.
Und Matthäus lag vor ihr, auf dem Boden, den Kopf nach unten, und schlotterte am ganzen Körper. Den Dolch hatte er offensichtlich
fortgeschleudert.
»Hât erbarmen!« quiekte er schrill. »Lât mih leven, endôt mir niht deheinen schaden!«
Wie betäubt lehnte sich Hannah zurück an die Tür. Beide Hände flach auf den Magen gepresst, atmete sie tief durch. Ihr Herz
raste. Durch mehrmaliges intensives Aus- und Einatmen versuchte sie ihren Puls zu drosseln, bevor sie sich zu dem Jungen herabbeugte,
um ihn zu beruhigen.
|259| 16
Samstag, 13. 11. 2004 – Aquarium
Während Tom das Gefühl beschlich, jeden Augenblick ins Nichts zu fahren, spiegelten sich die Lichter der entgegenkommenden
Fahrzeuge auf der regennassen Straße und nahmen ihm den letzten Rest an Sicht. Eine bleierne Müdigkeit lähmte seine Konzentration,
und ein lästiger Kloß im Hals erschwerte ihm das Schlucken.
Am Morgen bei Dienstantritt war er noch ein erfolgversprechender Wissenschaftler gewesen, mit einer glänzenden Zukunft, eingebunden
in ein Geheimprojekt mit fantastischen Möglichkeiten. Ein erstklassig eingerichtetes Institut, dessen Ausstattung jedem ambitionierten,
jungen Akademiker keine Wünsche offen ließ, war zu seiner zweiten Heimat geworden.
Jetzt war der ganze Laden einfach in die Luft geflogen, und es blieb die Frage, wie es nun weitergehen sollte.
Plötzlich klingelte sein Mobiltelefon.
»Hallo?«
»Hier ist Paul, Tom, wo steckst du jetzt?«
»Ich bin auf dem Weg ins Krankenhaus.«
»Wieso Krankenhaus? Ist irgendwas schief gelaufen?«, fragte Paul.
Tom atmete erschöpft aus. »Du hast Nerven! Ich folge dem Rettungswagen, der unseren Patienten ins Krankenhaus bringt.«
»Rettungswagen? Ich dachte, du wolltest die beiden bei deiner Freundin unterbringen?«
»Paul, wir haben keine Meerschweinchen materialisiert, die ich nur an interessierte Kinder zu verteilen brauche. Und falls
du es schon vergessen hattest, der Kerl war bewusstlos und ist es immer noch. Es war schwer genug, Hannah dazu zu bringen,
mir zu helfen, aber ich konnte ihr leider kein Verständnis dafür abbringen, dass ich einen fremden Mann einfach in ihrem Bett
krepieren lasse. Schon gar nicht, wo der Junge dabei war.«
»Was hast du mit dem Kleinen gemacht?«
»Der Junge ist bei Hannah. Aber die Sache gestaltet sich schwieriger, als ich vermutet hatte.«
|260| »Ich hab’s geahnt«, erwiderte Paul. »Vielleicht haben wir Glück, und der Kerl stirbt. Andernfalls können wir eine Menge Probleme
bekommen.«
»Was sollte ich
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