Das Rätsel der Templer - Roman
Möglicherweise kann ich dort auf meine Kameraden treffen,
die mich von Bar-sur-Aube aus begleitet haben. Wenn sie heil und gesund zurück geblieben sind, könnte es durchaus sein, dass
sie nach mir und dem Jungen suchen.«
Eine Schar von Graukitteln wanderte durch den Morgennebel mit einem hier und da gemurmelten »Gegrüßt sei Jesus Christus« an
Anselm und Gero vorbei. Die Gesichter der Männer waren nicht zu erkennen, da sie von den Kapuzen verhüllt wurden. Einem Lindwurm
gleich verschwanden die frommen Brüder anschließend im Kreuzgang, der zum Refektorium führte, wo das Frühessen wartete.
Anselm warf einen sehnsüchtigen Blick zur gewaltigen Klosterkirche, deren Hauptportal nach wie vor weit offen stand.
»Bevor wir abreisen, möchte ich noch beten«, bemerkte Gero leise. »Kommst du mit?«
Anselm folgte Gero mit einigem Erstaunen zum Eingang der Klosterkirche. Der Geruch von Weihrauch und Bienenwachs schlug ihnen
entgegen, und beim Eintritt in die monumentale Säulenhalle überkam Anselm das Gefühl, zum zweiten Mal eine Grenze hin zu einer
anderen Wirklichkeit zu überschreiten.
Von den gigantischen Deckengewölben hallte jeder einzelne Schritt wider. Mit bunten Ornamenten bemalt, war alles überfrachtet
mit einer |506| gewaltigen Farbenpracht. Im Innenraum hatte man mehrere hölzerne Bänke aufgestellt. Wo sie endeten, säumten zwei lange Reihen
von einzelnem Chorgestühl die wuchtigen Mauern rechts und links bis hin zur Apsis. Den ausladenden Opferstein umgaben im Halbkreis
die noch in der Neuzeit vorhandenen schlanken Säulen. Der Altar selbst war mit einer kostbaren Decke verhüllt, deren Verzierungen
aus Gold und Edelsteinen bestanden, die im Schein der dicken Kerzen bunt schimmerten. Darüber erhob sich eine große Marienstatue.
Lächelnd und ohne Jesuskind balancierte die Gottesmutter auf einer liegenden Mondsichel. In ihren bunten Gewändern und mit
dem hautfarbenen Anstrich im Gesicht wirkte sie absolut lebensecht. In den Gängen und Erkern standen überall ähnlich vollkommene
Gestalten von verschiedenen Heiligen auf steinernen Sockeln. Jede von ihnen vermittelte den Eindruck, als befände sie sich
in einer Art Dornröschenschlaf.
Andächtig nahm Anselm neben Gero in einer der Holzbänke Platz und faltete die Hände.
Das Licht der glutroten Morgensonne, die sich im Osten erhob, tauchte den schwelenden Nebel eines riesenhaften, dampfenden
Weihrauchspenders in ein warmes Apricot und überzog das buntbemalte Gewölbe wie mit einem Weichzeichner.
»Es tut weh«, sagte Anselm beim Hinausgehen, »wenn man weiß, dass eines fernen Tages beinahe nichts von dieser Pracht übrig
bleiben wird.«
Gero nickte mit einem tiefen Seufzer, dann entschuldigte er sich für einen Augenblick, um Hannah und den Jungen für die Abreise
zu holen.
Unauffällig wie sie gekommen waren, verließen sie den Klosterhof. Nach einem nicht allzu langen Marsch erreichten sie das
mittelalterliche Dollendorf. Mit seinen Fachwerkhäusern und einer bunt bemalten romanischen Kirche vermittelte der kleine
Ort einen überaus malerischen Eindruck.
Es war Markttag, und bevor Gero sich einem Wechselstall zuwandte, kaufte er Brot, Käse und Wein, um seinen Begleitern im Schutz
einer großen Linde ein kurzes Frühstück zu ermöglichen. Der irdene Krug ging reihum, und als Hannah einen guten Schluck von |507| dem prickelnden Federweißen nahm, überkam sie das Gefühl, nie etwas Köstlicheres getrunken zu haben.
Nachdem Gero unweit des Rheins bei einem Pferdeknecht die besten Tiere herausgesucht hatte, bezahlte er den älteren Mann aus
seinem Lederbeutel. Als die Pferde gezäumt und gesattelt waren, nahm Gero das Haupt aus Hannahs Rucksack und verstaute es,
eingewickelt in ein sauberes Tuch, in einer seiner eigenen Satteltaschen, dann saßen er und seine Begleiter auf.
Sowohl Hannah als auch Anselm waren zum Glück geschulte Reiter. Bald gelangten sie zu einem Handelspfad längs des Rheins.
Die Sonne schien, und die Luft war berauschend klar.
Vor ihnen breitete sich ein Meer aus Wiesen und Feldern aus, geteilt von einem tiefblauen Fluss. Im hohen Schilfgras, am Rande
des sandigen Ufers, brach sich flüsternd der Wind.
Über dem glitzernden Wasser schwebten zarte Nebelschleier. Zwei Holzkähne, die mit je einem Segel versehen waren, glitten
lautlos den Rhein hinab, und mit einem leisen Rauschen stiegen unzählige Störche auf und entschwanden unter stetigem Flügelschlagen
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