Das Rätsel der Templer - Roman
welche Gestalt du hast?«
Hannah schüttelte lächelnd den Kopf und stieg wankend in das offene Unterkleid, das an der Vorderseite mit seidenen Schnüren
zusammengehalten wurde. »Sind hier alle Kerle so aufmerksam?«
»Ich weiß nicht«, entgegnete er amüsiert. »Ich bin selten als Frau unterwegs.«
Gero zwang sich für einen Moment, den Blick von ihr abzuwenden und spähte durch die angelehnte Türe nach draußen. Als er sich
wenig später umdrehte, um sie erneut zu betrachten, war er beinahe sprachlos.
»Obwohl das Kleid recht schlicht gehalten ist«, bemerkte er voller Bewunderung, »siehst du aus wie eine Königin.«
|510| Der schmale Schnitt des Unterkleides betonte Brust und Hüften, und die Farbe des eng anliegenden Überwurfes unterstrich ihr
kastanienfarbenes Haar, die helle Haut und die grünen Augen in perfekter Weise.
»Schau mich nicht so an«, sagte sie verlegen. »Hilf mir lieber mit dem Schleier. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie
man ihn trägt.«
»Wie es nachher aussehen muss, weiß ich«, sagte Gero und startete einen unbeholfenen Versuch, das kostbare Stück in ihren
widerspenstigen Locken zu befestigen. »Aber mehr kann ich nicht dazu beitragen.« Entnervt betrachtete er das missglückte Ergebnis.
»Komm, lass mich mal.« Hannah nahm ihm die kupferfarbenen Haarnadeln aus der Hand. Wenig später hatte sie ihre dunklen Locken
kunstvoll aufgesteckt. Mit zwei weiteren Nadeln fixierte sie das zarte Gebilde von einem Schleier oberhalb der Schläfen, so
dass es zu beiden Seiten gleichlang herunterhing.
»Und?«
»So ähnlich sollte es aussehen«, sagte er und nickte zufrieden. Nachdem er ihr in den Mantel geholfen und ihr gezeigt hatte,
wie man mit einem Tasselverschluss umging, umarmte er sie und küsste ihren bloßen Nacken.
Ein Prickeln lief über ihre Haut. Aus dem Augenwinkel konnte sie sehen, dass er die Lider geschlossen hielt. Genüsslich atmete
Gero ein. Nur widerwillig entließ er sie aus seinen Armen.
Hannah sammelte ihre alten Kleider von einem Gatter und faltete sie ordentlich.
Gero beobachtete sie stumm.
»Stimmt was nicht?« Irritiert sah sie ihn an. Sein eben noch heiterer Gesichtsausdruck hatte sich verdüstert.
»Nein«, erwiderte er leise. »Ich frage mich nur, wie ich meiner Familie all das hier erklären soll.«
»Du willst ihnen doch nicht etwa die Geschichte mit der Zeitreise auftischen?«
»Niemals.« Gero nahm ihr das Kleiderbündel ab. »Wie sollte sie mir jemals Glauben schenken.« Er öffnete die Stalltür. Sein
Blick war schwermütig. »Es gibt so vieles, worüber ich nachdenken muss. Es will mir einfach nicht in den Kopf, warum uns die
Ordensleitung nicht |511| schon viel früher gewarnt hat. Nach allem, was ich erfahren durfte, wussten die Brüder des Hohen Rates schon lange vorher
um die herannahende Katastrophe. Warum ist es den Hütern des Hauptes nicht gelungen, rechtzeitig gegen König Phillip und seine
Machenschaften vorzugehen?«
»Vielleicht haben sie es ja versucht«, bemerkte Hannah vorsichtig.
Gero hob eine Braue. »Da ich allem Anschein nach die letztmögliche Rettung vereitelt habe, wüsste ich gerne, ob Gott dem Allmächtigen
überhaupt noch daran gelegen ist, unser Schicksal zum Besseren zu wenden.«
Ihre Weiterreise führte über eine staubige Straße, entlang des Rheins, vorbei an kleineren Festungen und Burgen, die sich
zum größten Teil als Zollstationen herausstellten. Überall mussten sie anhalten und sich eingehenden Befragungen unterziehen.
Da Gero dem Orden der Templer angehörte, durften sie ihre Reise jedoch unbehelligt fortsetzen.
Die kleine Templerkomturei in Hönningen empfing sie mit lautem Geblöke. Hunderte von Schafen waren zum Rhein hinuntergelaufen.
Nur mühsam gelang es dem Schäfer, sie mit seinen Hunden zusammenzutreiben, bevor sie einem herannahenden Treidelgespann den
Weg verstellten.
Hoyngen, wie Gero den Ort nannte, hatte seine eigene Fährstation. »Die Überfahrt ist für uns kostenlos«, erklärte er knapp,
nachdem er auch hier seine Papiere unter den aufmerksamen Augen des Schiffers gezückt hatte. »Die Fähre gehört dem Orden.«
Am anderen Ufer erhob sich die weitaus größere Komturei von Brysich. Hannah staunte über die langen, eindrucksvollen Mauern,
die sich zum Ufer hin mit einem großen Torbogen öffneten. Das ganze Areal war von riesigen, schattenspendenden Platanen umgeben.
Nach etwa einer Viertelstunde Fahrt vom gegenüberliegenden Ufer
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