Das Rätsel der Templer - Roman
gestrecktem Galopp ging es die letzten fünfhundert Fuß hinab zur Burg, und für Anselm beantwortete sich die Frage, wie
man diesen nicht in allen Punkten idealen Platz gesichert hatte. Zum einen hatte man den Wald rund um das mächtige Gemäuer
bis auf die Wurzeln gerodet und nur noch ein paar Obstbäume stehen gelassen. Somit konnte der Turmwächter problemlos beobachten,
wer sich den beiden gut zehn Meter hohen Ringwallmauern näherte. Auf den dazwischen befindlichen Wehrgängen patrouillierten
zusätzlich Soldaten in bunten Wappenröcken.
Um den Pallas, das Wohngebäude des Burgherrn und seiner Familie zu erreichen, musste man nicht nur die Schutzmauern überwinden,
sondern zunächst einen breiten Wassergraben überqueren.
Das eiserne Falltor wurde hochgezogen und die hölzerne Brücke herabgelassen.
Der Wachmann, der neben dem heruntergelassenen Brückenübergang |543| postiert war, stand stramm, als er das rote Kreuz auf Geros Chlamys erkannte.
Hannah duckte sich instinktiv beim Anblick der mächtigen Eisenspitzen, die von oben herab wie Speere in das etwa vier Meter
hohe Spitzbogentor hereinragten, als sie dicht hinter Gero und unter lautem Hufgetrappel die erste Hürde passierte.
Ein gepflasterter Weg führte weiter zu einem tunnelartigen Aufgang, der sogenannten Pferdetreppe, die vor einem zweiten Tor
mündete, das ebenfalls von zwei Uniformierten bewacht wurde.
Die Burgwachen ließen vor Überraschung die Spieße fallen, als sie sahen, wem sie Einlass gewährt hatten. Ein wild aussehender
Geselle in Kettenhemd und Wappenrock, ohne Zweifel der Hüter des vorderen Wehrturms, stieß oben aufgeregt in seine Fanfare.
Hannahs Herz raste vor Aufregung, als sie den weitläufigen Innenhof erreichten. Zwischen einer märchenhaft anmutenden Kulisse
aus Erkern, Türmchen und bunten Fenstern traf sie auf unzählige, erschrockene Gesichter. Ein paar Frauen ließen ihre Waschkörbe
fallen, und einige Männer in abgewetzten Lederschürzen, die beim Beschlagen eines riesigen Kaltblüters innehielten, sprangen
entsetzt zur Seite, als das Pferd unvermittelt ausschlug. Hannah wunderte sich über die vielen Kinder, die plötzlich mitten
im Spiel verharrten, lautlos, als ob das Schloss und all seine Bewohner in einen Dornröschenschlaf fallen.
Ein junger Bursche löste sich aus seiner Erstarrung und kam angelaufen, um Gero unter einer tiefen Verbeugung das Pferd abzunehmen.
Hannah, die ebenfalls von ihrer Stute abgestiegen war, beobachtete gebannt, wie weitere Helfer folgten, um ihnen die Tiere
abzunehmen, bis ein Pulk von mindestens zwanzig Menschen sich so schnell um sie und die anderen scharte, dass sie es beinahe
mit der Angst zu tun bekam. Dann plötzlich änderte sich die Körperhaltung fast aller Anwesenden, und sie wichen zurück.
Durch die Wolken brachen die letzten Strahlen der untergehenden Sonne herein und nahmen Hannah für einen Augenblick die Sicht.
Sie hob schützend die Hand über ihre Augen und blinzelte. Dann konnte sie sehen, dass sich das Eingangsportal zum mehrstöckigen
Haupthaus der Burg geöffnet hatte.
|544| Mit energischem Schritt trat ein Mann in den Hof. Er war groß, breitschultrig, hatte weißblondes, schütteres Haar und wirkte
um einiges schlanker als Gero.
Bei genauer Betrachtung fehlte ihm die rechte Hand, und mit seiner athletischen Erscheinung glich er einer unvollständigen
griechischen Statue. Seine dunkelgrüne Wildlederhose und die knielangen, braunen Lederstiefel unterstrichen seine dynamische
Erscheinung. Ein tailliertes, dunkelgrünes Steppwams mit Stehkragen, dazu ein leichtes Kettenhemd und ein bunter Wappenrock,
der bis zu den Knien reichte und das Wappen von Geros Siegelring präsentierte, komplettierten das eindrucksvolle Auftreten
des Mannes. Die verbliebene Hand schmückte ein pompöser, goldener Ring mit einem blassblauen Stein.
Vor lauter Staunen über diesen Auftritt hatte Hannah nicht bemerkt, dass Gero die Satteltaschen mit dem Haupt der Weisheit
Anselm überantwortet hatte. Danach war er dem älteren Mann in der vergleichsweise pompösen Aufmachung entgegengetreten und
kniete nun in ungewohnt demütiger Haltung vor ihm nieder.
»Gott sei mit Euch, Vater«, sagte er mit fester Stimme. Dabei hielt er den Kopf ehrerbietig gesenkt. »Ich schätze mich glücklich,
meine Ankunft anzeigen zu dürfen und Euch bei guter Gesundheit anzutreffen.«
Der Burgherr legte Gero die verbliebene Hand auf den dunkelblonden Schopf.
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