Das Rätsel der Templer - Roman
Gewand aus dem Pulk von farbenprächtigen Kleidern.
Hannah überlegte einen Moment, ob sie jemals einen schöneren Menschen gesehen hatte. Mit ihrem ebenmäßigen, hellen Teint und
den bis auf die Taille herabfallenden, goldblonden Locken hätte sich die junge Frau in modernen Zeiten jeder Misswahl stellen
können. Ein durchsichtiger hellblauer Schleier, der die Flut von Haaren bedeckte, wurde von einem goldenen Reif gehalten,
der ihre Stirn umspannte wie ein Heiligenschein.
Sie sagte etwas auf Altfranzösisch und lächelte Gero mit strahlend weißen Zähnen hingebungsvoll an.
|547| »Amelie?«, antwortete er und schien trotz eines hinreißenden Lächelns, das er ihr schenkte, nicht recht zu wissen, ob er sich
freuen sollte. Sein suchender Blick glitt für einen Moment über die Umherstehenden. Dann wandte er sich wieder dem bildhübschen
Mädchen zu.
»Struan?«, bemerkte er und sah sich zögernd um.
Das Mädchen plapperte munter drauf los, und Hannah warf einen sehnsüchtigen Blick zu Anselm hin, in der Hoffnung, dass er
übersetzen könnte, doch er stand zu weit von ihr entfernt, um etwas verstehen zu können.
Ein Wiehern ließ Gero aufhorchen. Ein riesiger Kerl in vollem Templerornat und mit rabenschwarzen, kurz geschorenen Haaren
trat aus der Tür eines Nebentraktes heraus und führte ein silberfarbenes, nicht minder riesiges Pferd am Zügel.
Hannah wusste nicht, was sie mehr faszinierte, der gigantische Apfelschimmel oder der blendend aussehende Templer. Als das
Tier Gero sah, wieherte es laut und scharrte mit den Vorderhufen.
»Atlas, allen Heiligen sei Dank«, rief Gero und stürmte zu dem prächtigen Pferd hin, das ihn mit seinen samtweichen Lippen
und unter leisem Wiehern regelrecht liebkoste.
Matthäus, der die ganz Zeit eher abseits gestanden hatte, rannte ebenfalls auf das Pferd zu. Beide, Herr und Knappe, tätschelten
das eindrucksvolle Tier mit rührender Inbrunst.
»Bring ihn in den Stall und gib ihm drei Scheffel Hafer und Äpfel, wenn welche da sind«, sagte Gero wenig später, dabei gab
er Matthäus einen aufmunternden Klaps auf die Schulter. Zu einem etwa gleichaltrigen Jungen, der ganz in der Nähe stand, meinte
er: »Zeig meinem Knappen, wo die Pferdeställe sind.«
Dann fielen sich die beiden Männer um den Hals.
»Das ist Struan«, stellte Gero den riesigen Kerl vor, der mit seinem schwarzen Haar und den beinahe ebenso schwarzen Augen
einem feurigen Spanier glich. Dass es sich um einen waschechten Schotten handelte, wie Gero hinzufügte, hätte Hannah nicht
vermutet.
»Er ist mein bester Freund«, fuhr Gero lächelnd fort und schlug dem blendend aussehenden Mann wie zum Beweis mit der flachen
Hand hart auf den Rücken.
Dem Schotten schien diese ruppige Geste nichts auszumachen. Er |548| verbeugte sich formvollendet, die Linke am Knauf seines Schwertes, die Rechte auf dem Herzen. »Madame, es ist mir eine Ehre«,
sagte er auf Mittelhochdeutsch und mit einer bemerkenswert rauen Stimme.
Anselm, der von Struans Vorstellung nicht weniger beeindruckt war, konnte seinen Blick nicht von den mächtigen Oberarmen des
Schotten wenden.
Struan sah Gero unsicher an, als weder Hannah noch Anselm etwas erwiderten.
»Das sind Hannah und Anselmo de Caillou«, erklärte Gero auf Franzisch. »Ich verdanke ihnen mein Leben.«
Struan hob eine seiner exakt geschnittenen schwarzen Brauen wie zu einer Frage. Das blonde Mädchen an seiner Seite, das unzweifelhaft
in einer engen Beziehung zu dem Hünen stand, weil sie sich liebevoll an ihn schmiegte, sah Hannah verblüfft an. Dann streckte
sie ihr mit einem freundlichen Lächeln beide Hände entgegen. »Amelie Bratac«, sagte sie und umarmte Hannah ein wenig unbeholfen.
Während sie Anselm, der unsicher zu Struan aufschaute, nur zunickte. Dann fügte sie in einem französisch eingefärbten Mittelhochdeutsch
hinzu: »Es ist mir eine Freude, euch kennen zu lernen.«
»Was ist mit Johan?« Geros Stimme verriet seine Furcht, die ihn verfolgte, seit er Struan und Johan aus den Augen verloren
hatte.
»Es geht ihm gut«, entgegnete Struan mit ernster Miene. »Er wurde verletzt. Er wollte dich und Matthäus retten, bevor das
seltsame Licht euch verschlungen hat. Dabei hat ihn ein herunterstürzender Ast am Kopf erwischt. Aber er wird bald wieder
aufstehen können.«
»Wo ist er?« Gero sah sich besorgt um.
»Kommt erst einmal herein«, forderte die Burgherrin die Umherstehenden auf. »Anstatt zu trauern,
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