Das Rätsel der Templer - Roman
Doch wenigstens ließ er die Haare des Jungen los.
Matthäus standen Tränen in den Augen, nicht vor Schmerz, sondern vor Scham und Unglück.
Johan war nun auch hinzugekommen. Er hatte Mitleid mit Matthäus, aber auch mit ihr selbst, das konnte sie sehen, doch er sagte
kein Wort.
Gero bedachte Hannah mit einem furchteinflößenden Blick. »Du hast keinerlei Ahnung, Frau«, zischte er, »in welche Gefahr du
den Jungen gebracht hast. Wenn dir dein Leben nichts wert ist, so ist es deine Sache, aber für Matthäus trage ich die Verantwortung.
Er führt keinerlei Ausweispapiere mit sich. Bei jeder verdammten Kontrolle, die uns bevorsteht, werden wir uns in langwierige
Erklärungen verstricken müssen, wer er ist und woher er stammt. Wenn die Geheimpolizei Nogarets nach ihm sucht, befindet er
sich in Lebensgefahr, und glaube ja nicht, dass die Schergen der Gens du Roi auf die Folter verzichten, nur weil er in deinen
Augen noch ein Kind ist!«
Wenig später ließ Gero Halt machen und wählte ein Stück von der Straße entfernt einen Platz für ihr Nachtlager aus. Er wollte
es nicht riskieren, von den Wachsoldaten der Stadt kontrolliert zu werden. Somit |603| blieben ihnen die sicheren Stadtmauern verwehrt, was den eindeutigen Nachteil hatte, dass sie abwechselnd Wache schieben mussten.
Johan zündete ein Feuer an und bediente sich dabei aus einem kleinen Vorrat mitgeführter Buchenscheite. Der Wagen bot einen
Sichtschutz zur Straße hin, auf der am Abend immer weniger Reiter und Gespanne entlang zogen. Ein paar Schaffelle und Decken
mussten reichen, um ein Mindestmaß an Bequemlichkeit zu garantieren. Brot, Käse und Wein machten die Runde, doch während der
ganzen Zeit sprach Gero kein Wort. Ein Stück abseits von Hannah saß er im Gras und würdigte sie keines Blickes. Schließlich
hielt sie es nicht mehr aus. Sie erhob sich schweigend und marschierte, ohne auf ihre Umgebung zu achten, in die Dunkelheit
hinein.
Anselm blickte verstört auf, unschlüssig, ob er ihr folgen sollte.
Johan war es schließlich, der sich seufzend erhob, und ihr, die Hand am Messergürtel, hinterher ging.
Hannah zuckte regelrecht zusammen, als er sich nach einer Weile beinahe lautlos herangepirscht hatte und sie unter einer alten
Eiche sitzend vorfand.
»Ich bin es, Johan«, bemerkte er flüsternd und legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. »Habe ich dich schon wieder
erschreckt?«
»Macht nichts«, antwortete sie.
Johan konnte an ihrer Stimme hören, dass sie geweint hatte. Er setzte sich neben sie und tastete nach ihrer Hand, um sie sanft
zu drücken. »Er meint es nicht so«, sagte er leise. »Er fürchtet sich – wie wir alle. Er sorgt sich um dich und nun auch um
Matthäus.«
»Ich konnte den Jungen nicht zurücklassen«, rechtfertigte sich Hannah. »Ich weiß, wie sehr er an Gero hängt.«
»Du hast ihn lieb gewonnen, nicht wahr?«
»Wen?«
Johan lachte kurz auf. »Beide. Den Herrn und seinen Knappen.«
»Merkt man mir das so deutlich an?«
»Auch wenn ich nur ein Ordensritter bin, so kann ich doch die Liebe zwischen zwei Menschen erkennen.«
»Gibt es da zufällig jemanden, der deine Sinne geschärft hat?« Obwohl es dunkel war, konnte sie an Johans verlegenem Räuspern
hören, dass sie mit ihrer Andeutung ins Schwarze getroffen hatte.
|604| »Ja«, sagte er leise. »Sie lebt sogar hier in der Nähe.«
»Warum gehst du nicht zu ihr?«, fragte Hannah.
»Erstens ist es zu gefährlich, und zweitens wäre es nicht recht, sie in unsere Sache hineinzuziehen. Außerdem ergibt es keinen
Sinn, dass wir uns je wieder sehen. Sie gehört zum Orden der Beginen, und ich bin immer noch ein Tempelritter. Was sollte
aus uns werden?«
»Findest du nicht, dass es sich lohnt, für die Liebe zu kämpfen?«.
»Ich weiß nicht …«, antwortete er ausweichend und zog sie hoch. »Komm! Wir sollten zurückgehen.«
36
Samstag, 28. Oktober 1307 – St. Mihiel
Gegen Morgen erwachte Hannah. Ein paar Brocken Altfranzösisch drangen von außerhalb des Wagens an ihr Ohr. Sie hatte sich
noch nicht aufgerichtet, als die Wagentür geöffnet wurde und Gero hereinkletterte. Vorsichtig stieg er über sie und den Jungen
hinweg, der sich in der Nacht wie ein junger Hund schutzsuchend an sie gepresst hatte. Sie stellte sich schlafend, während
er einen Stapel Kleider durchsuchte.
Als Hannah die Augen nur einen Spalt weit öffnete, konnte sie sehen, dass er Matthäus liebevoll über den Kopf
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