Das Rätsel der Templer - Roman
wie die beiden Pferde sich aufbäumten und wie mit Dornen gepeitscht davon preschten. Amelies
Stute folgte ihnen, während sich das Mädchen zu Tode erschrocken in der Mähne des Tieres festkrallte.
Ohne sich dessen bewusst zu sein, dass er immer noch den Jungen am Arm gepackt hielt, wirbelte Gero herum, den Kopf in den
Nacken gelegt, um herauszufinden, was diese Hölle bewirkte. Direkt über ihm, auf Höhe der Baumwipfel vermischte sich das dunkle
Blau des Abendhimmels mit einem grün leuchtenden Wabenmuster. Matthäus, der sich nicht mehr auf den Beinen hatte halten können,
war auf den Rücken gefallen und wimmerte vor Schmerz, laut und mit weit geöffnetem Mund. Seine vor Angst geweiteten Augen,
mit denen er in den Himmel starrte, waren Gero Beweis genug, dass nicht er allein dem Wahnsinn verfiel. Zunehmend wurde alles
um sie herum von diesem seltsamen, leuchtend grünblauen Muster überzogen. Die Umgebung schien sich in ihrer ursprünglichen
Struktur aufzulösen. Selbst er und der Junge waren davon betroffen.
Instinktiv ließ Gero sein Schwert fallen, ging auf die Knie und riss Matthäus an sich. Als der erste Baum seltsam lautlos
zu Boden ging, barg er seinen Knappen schützend unter sich.
»Ich bin bei dir … ich bin bei dir«, stieß der Templer hervor. Unter sich spürte er den gehetzten Atem des Jungen. Dann traf
ihn ein harter Gegenstand am Kopf.
Während es um ihn herum dunkel wurde, begann er ein letztes Gebet.
|181| Der Kampf endete abrupt. Wie eingefroren blieb der Pöbel stehen und starrte auf die Lichtung. Struan nutzte die Unaufmerksamkeit
seiner Widersacher und schlug in einem regelrechten Rausch auf sie ein. Dabei bekam er gar nicht mit, was wenige hundert Fuß
entfernt geschah. Erst als sich drei seiner Gegner abschlachten ließen wie ahnungslose Lämmer, ahnte er, dass etwas nicht
in der Ordnung sein konnte. Alarmiert schaute er über die Lichtung, um zu sehen, ob Amelie noch an ihrem Platz war. Als er
das merkwürdige Leuchten und das lautlose Fallen der Bäume bemerkte, war es schon zu spät.
Obwohl sein Herz vor Angst bis zum Hals schlug, rannte er auf das unbekannte Phänomen zu, um zu Amelie zu gelangen, die er
jedoch nirgendwo ausmachen konnte. Dann sah er Johan, der verletzt am Boden kniete. Mit schmerzverzerrtem Gesicht hielt sich
der flämische Bruder den Schwertarm, während er wie von Sinnen auf die Lichtung starrte.
Ein grell schimmerndes Netz spannte sich wie ein strahlender Rundkäfig um das gesamte Areal. Von weitem konnte Struan erkennen,
dass Gero im Zentrum der Erscheinung ebenfalls am Boden hockte und Matthäus unter sich geborgen hielt.
Tapfer versuchte der Schotte mit seinem Breitschwert in die blaugrüne Hülle einzudringen, doch ein ungewohnt starker Schlag,
der seinen ganzen Körper erzittern ließ und ihm vorübergehend die Sinne raubte, hielt ihn zurück. Ohnmächtig musste er mit
ansehen, wie ein dicker Ast auf Gero herab krachte, genau an der Stelle durchschnitten, wo das schimmernde Netz den Baum gestreift
hatte. Ein zweiter Ast traf Johan am Kopf, und riss ihm eine blutende Schramme in den Schädel, worauf der flandrische Ritter
stöhnend zusammenbrach.
Erschrocken zog Struan den bewusstlosen Bruder aus der Gefahrenzone. Währenddessen verdichtete sich der Lichtkäfig mehr und
mehr, und dort, wo seine Begrenzung endete, durchtrennte er ganze Baumstämme, gleichgültig, wie dick sie waren.
Der ansonsten unerschrockene Schotte zitterte am ganzen Körper. Angsterfüllt rannte er an dem äußeren, leuchtenden Kreis entlang.
All sein Mut hatte ihn verlassen, und die Sorge um Gero, Matthäus und auch Amelie raubte ihm beinahe den Verstand. Tränen
liefen über sein Gesicht, als er sich in der unheimlichen Stille des Waldes die Verzweiflung aus der Kehle schrie und die
Hände flehend zum Gebet gen |182| Himmel streckte. Völlig hilflos musste er mit ansehen, wie sich eine ganze Waldlichtung mitsamt seinem Ordensbruder und besten
Freund und dessen unschuldigen Knappen in Nichts auflöste.
12
Dienstag, 17. Oktober 1307 – Die verlorenen Söhne
Die ganze Nacht lang blickte Struan starr in einen finsteren Wald hinein, in dem kein Vogel sang und kein Tier raschelte.
Er hockte reglos am Boden, und nur sein Herzschlag unterbrach die zeitlose Stille, die seine Seele in einer grenzenlosen,
nie gekannten Furcht gefangen hielt.
Amelie, die er völlig verstört aufgefunden hatte, schmiegte sich wie ein hilfloses
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