Das Rätsel Sigma
Schlaf genannt.“
„Also ich glaube nicht, daß es sich um unerweckbaren Schlaf handelt. Aber dieser Glaube steht gegenwärtig noch auf schwachen Füßen. Leider.“
„Erklären Sie's mir?“
„Wenn Sie eine sehr grobe Vereinfachung in Kauf nehmen, ja“, meinte die Ärztin nachdenklich. „Stellen Sie sich zwei gegeneinander arbeitende Zentren im retikulären System vor. In Wirklichkeit sind es keine Zentren, sondern Strukturen, aber das macht jetzt nichts. Das eine Zentrum hemmt die Aktivitäten des Gehirns, das andere regt sie an. Im Schlaf hat das hemmende Zentrum die Oberhand, im wachen Zustand das anregende. Der Dauerschlaf kann also zwei Ursachen haben: entweder das anregende Zentrum produziert nicht oder nicht genug, oder aber das hemmende Zentrum produziert zuviel. Soweit klar?“
„Ja“, bestätigte Herbert, „und unerweckbarer Schlaf entstand in den bisher bekannten Fällen durch Störung oder Zerstörung des anregenden Zentrums.“
„Genau. Aber weiter. Schlaf oder Wachsein ist nicht einfach ein Zustand, sondern ein Prozeß. Das Verhältnis der beiden Zentren ist nicht immer gleich, sondern schwankt – im wachen Zustand wie im Schlaf. Diese Zentren selbst werden nämlich wieder gesteuert durch die verschiedensten Signale, die aus allen Körperteilen eintreffen. Körperliche Erschöpfung und Absinken der Zahl der einwirkenden Umweltreize senken die Produktion des anregenden Zentrums und steigern die des hemmenden Zentrums. Der Mensch schläft ein. Soweit ist alles als erwiesen zu betrachten. Was jetzt folgt, ist Hypothese.
Die einzelnen Bereiche des Körpers, die durch Signale auf die beiden Zentren wirken, erholen sich unterschiedlich schnell. Nach etwa einer halben Stunde bereits erhalten die Zentren vereinzelte Signale, die eine Anregung bewirken sollen. Das anregende Zentrum antwortet mit einer Steigerung, das hemmende müßte nun mit einer Senkung seiner Wirksamkeit reagieren. Aber offenbar wirken die Zentren auch direkt aufeinander ein; solange nämlich der überwiegende Teil des Körpers nicht ausreichend erholt ist – und natürlich solange nicht starke Umweltreize ein plötzliches Erwachen herbeiführen –, reagiert das hemmende Zentrum genau entgegengesetzt, es steigert seine Aktivität. Es entsteht der desynchronisierte Schlaf, der einerseits Merkmale des Erwachens zeigt, andererseits aber tiefer ist, weil das hemmende Zentrum die Reizschwelle erhöht. Sinneseindrücke, die so stark sind, daß sie bei normalem Schlaf in das Gehirn eindringen, kommen so nicht durch. Darum wird dieser Schlaf auch paradox genannt. Und nach etwa fünf bis fünfzehn Minuten läßt nun auch das anregende Zentrum wieder nach, weil ja jetzt die Signale nicht mehr durchdringen, und der alte Gleichgewichtszustand ist wiederhergestellt. Das wiederholt sich solange, bis der Körper genügend ausgeruht ist und die beiden Zentren also mehr anregende als hemmende Signale empfangen. Immer vorausgesetzt natürlich, der Schlaf wird nicht durch Umwelteinflüsse beendet, die die Reizschwelle übersteigen. Etwa wenn der Mensch von außen geweckt wird.“ Sie schwieg einen Augenblick.
„Bis hierher ist alles klar“, sagte Herbert.
„Und nun kommt der Grund für meine Hoffnung, daß es sich nicht um unerweckbaren Schlaf handelt. Etwa zwölf Stunden nach dem Einschlafen wurde bei einigen Kranken festgestellt, daß der bisher durchgehend synchronisierte Schlaf abgelöst wird durch einen Wechsel beider Schlafarten, der nur etwas langsamer vonstatten geht als normal. Wenn die Hypothese stimmt, die ich Ihnen entwickelt habe und die von vielen Wissenschaftlern vertreten wird, dann wäre das ein Beweis dafür, daß beide Zentren noch funktionsfähig und nur die Proportionen gestört sind.“
„Das ist doch eine völlig einwandfreie Schlußfolgerung!“ rief Herbert begeistert.
„Ja“, antwortete Frau Dr. Baatz nüchtern, „ob sie aber auch richtig ist, hängt von der Richtigkeit der Hypothese ab.“
„Wenigstens klingt sie einleuchtend“, sagte Herbert.
„Das liegt an der Vereinfachung“, sagte die Ärztin und lächelte plötzlich, „oder daran, daß ich sie selbst für richtig halte.“
„Dann bedanke ich mich erst mal“, sagte Herbert. „Und übrigens sind wir jetzt da.“
Er parkte den Wagen am Straßenrand. Sie gingen ein paar Schritte durch den Regen und standen vor dem Baum, auf dem noch vor einigen Stunden der vermißte Junge gehockt oder vielmehr gehangen hatte.
„Da in der Astgabel, sehen
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