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Das Rätsel Sigma

Das Rätsel Sigma

Titel: Das Rätsel Sigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Tuschel
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betrachtete das Blatt verständnislos und legte es auf den Tisch, aber nicht vor sich, sondern ein Stück beiseite, als wolle er nichts damit zu tun haben.
    „Auf der Abszisse ist der Abstand der Explosionsherde in der Folie abgetragen, auf der Ordinate der reziproke Zeit bis zur Verarbeitung durch die Bakterien, als Maß der Effektivität sozusagen. Du hast doch meine Anrufe auf deinem Speicher abgehört, oder?“
    „Ja, natürlich“, sagte Herbert zerstreut. Obwohl er es nicht wollte, schielte er immer wieder auf das Blatt. Schließlich zog er es doch zu sich heran. „Rechts und links sieht es aus wie eine Normalverteilungskurve. Das war ja auch zu erwarten. Aber in der Mitte…“
    Plötzlich schien ihm ein Gedanke zu kommen. Er beugte sich vor, seine Haltung drückte jetzt Spannung aus, rasch nahm er einen Schreiber aus der Jackentasche, Wiebke legte ein leeres Blatt Papier vor ihn hin, er bedeckte es mit Formeln, und dann, als das Blatt schon fast voll war, legte er triumphierend den Stift hin und lehnte sich zurück.
    „Deine Kurve ist die Differenz von zwei Normalverteilungskurven, einer flachen, die von deinen Bakterien stammt, und einer steilen, die irgendeinen Störfaktor darstellt, der ebenfalls normalverteilt ist und das Maximum an der gleichen Stelle hat.“
    „Was für ein Störfaktor?“ fragte Wiebke verblüfft.
    Herbert sank wieder in seinen Sessel zurück. Die kurze Belebung, die das Interesse an der Aufgabe ausgelöst hatte, war vorbei. Bei Leifs Fragen, da war doch irgend etwas, das ihn angesprochen hatte… Richtig, Zusammensetzung der Kranken… Vielleicht konnte das auch in einer Kurve erfaßt werden… Aber es waren wohl zuwenig… Männer, Frauen, Greise, Kinder… Kinder? Wieso eigentlich keine Babys? Und wie war das bei stillenden Müttern? Die Kuh gab das Gift mit der Milch weiter und wurde selbst nicht krank… Und die Kälber? – Da fiel ihm ein, daß Wiebke etwas gefragt hatte. „Was wolltest du wissen?“ sagte er.
    „Was das für ein Störfaktor sein soll?“
    „Was geht das mich an!“ brummte Herbert.
     

MITTWOCH
    Es gab Neuigkeiten für Herbert – gute und schlechte.
    Zunächst: Die Oranienburger hatten die volle Strukturformel des Toxins ermittelt, und sie hatten zwei Versuchstiere zum Einschlafen gebracht, einen Hund und eine Maus. Damit war also endgültig bewiesen, daß die Milch aus Großhennersdorf die Ursache der Vergiftung war.
    Deshalb nahm Herbert es auch nicht besonders tragisch, daß noch ein neuer Kranker aufgetaucht war, aus einer ganz anderen Ecke des Bezirks. Das würde sich klären lassen, die Milchtheorie war damit nicht mehr zu erschüttern.
    Gut war auch, daß der zentrale pharmakologische Computer des RGW in Rumänien den Auftrag übernommen hatte, kurzfristig Antitoxine zu berechnen.
    Schlimm war dagegen die Nachricht von einem Selbstmordversuch, der gegen Morgen stattgefunden hatte. Glück im Unglück: Es war beim Versuch geblieben. Auslösend dafür war aber eine schwache Vergiftung, so schwach offenbar, daß der Kranke gar keine ausgesprochenen Schlafperioden gehabt hatte. Ein Lehrer, ohnehin in einer beruflichen Krise, hatte unter der Einwirkung des Gifts vollends versagt und dann in einer schweren Depression versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Der Elektroenzephalograph wies das Vorhandensein des Giftes nach.
    Dieser Vorfall beleuchtete blitzlichtartig die Situation. Wie viele Menschen mochten noch in Neuenwalde leben, die krank waren, ohne es zu wissen! Sicherlich mehr, als bisher überhaupt erfaßt waren! Und welche Gefahr bedeutete das – für die Kranken, aber auch für andere!
    Es war offensichtlich notwendig, eine breit angelegte Reihenuntersuchung zu organisieren. Herbert war früh mit neuem Mut aufgestanden und mit dem festen Willen, sofort in Großhennersdorf die Spur erneut aufzunehmen, und diesmal gründlicher. Jetzt mußte er diese Untersuchung auf den Nachmittag verschieben; für die Reihenuntersuchungen wurden alle gebraucht. Sie mußte bis Mittag abgeschlossen sein, denn für den Nachmittag war Sturmwarnung gegeben worden. Böen mit Spitzengeschwindigkeiten bis zu hundertfünfzig Stundenkilometer wurden angekündigt – wer weiß, was da noch funktionierte und wer da noch oder vielmehr nicht mehr greifbar war.
    Bereits eine Stunde später traf eine Einheit der Luftstreitkräfte ein, die hinter dem Kreiskrankenhaus einen provisorischen Landeplatz einrichtete, und bald darauf begann ein ständig auf- und abschwellendes

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