Das Rätsel Sigma
Vergiftung?
Viertens: Wie es scheint, wird das Gift im Körper nicht abgebaut, oder nur so langsam, daß seine Wirkung nach achtundvierzig Stunden noch unverändert ist. Warum?
Fünftens: Warum geht der Einschlafprozeß so schnell?
Das war's. Was meinst du, können Nichtmediziner damit etwas anfangen?“
Leif zögerte. „Teils ja, teils nein. Aber das ist nicht unsere Sorge. Trotzdem – wir sollten den Kreis der Empfänger vielleicht erweitern. Biochemiker. Die pharmazeutische Industrie und so weiter. So, hör du mal zu – jetzt kommt der nichtmedizinische Teil der Fragen. Den Kombinefahrer hab ich auch, sogar als eine der ersten Fragen. Dann geht es weiter:
Welche Spezialisten aus welchen Fachrichtungen könnte man noch hinzuziehen oder konsultieren?
Entspricht die Zusammensetzung der Kranken der Zusammensetzung der Bevölkerung?
Die Milchforscher erklären, daß das Gift nicht von der Kuh produziert sein kann, auch nicht von einer kranken Kuh. Es kann aber die Milchdrüsen passieren. Nimmt die Kuh es aus der Umwelt auf, oder gelangt es nach dem Melken in die Milch? Wenn aus der Umwelt – warum ruft es bei der Kuh keinen Schlaf hervor, obwohl der Schlaf von der biologisch ältesten Formation des Gehirns gesteuert wird, die Wirkung also bei allen höheren Tieren gleich sein sollte!“
Leif drehte sich um, weil er plötzlich ein seltsames Gefühl im Nacken hatte. Schirin sah ihn mit einem Gesicht an, das blankes Entsetzen ausdrückte.
Er sah sich unwillkürlich um, ob es da etwas gab, das sie so maßlos erschreckt haben könnte, dann blickte er sie wieder an. Jetzt stammelte sie einige Worte, die er nicht verstand. Er wollte zu ihr gehen, aber mit einem Aufschrei wich sie zurück, ein, zwei kleine Schritte, dann langsam, zögernd, ohne den Blick von seinem Gesicht zu lassen.
Reden! dachte Leif, irgend etwas, zärtliche Worte, ihren Namen in sanftem Ton, vielleicht erkennt sie meine Stimme, und er redete, redete unaufhörlich, machte nur noch einmal den Versuch, sich ihr zu nähern, sofort ging sie rückwärts, er blieb stehen und redete weiter, redete und dachte dabei verzweifelt: Etwas muß ich doch tun, es ist ein Zustand des labilen Gleichgewichts, den ich jetzt aufrechterhalte, das geht doch nicht endlos, wenn sie plötzlich zusammenbricht, oder wenn sie etwas Verrücktes tut. Das Fenster, das Fenster ist sicher, die Tür, ja, ich muß mich zwischen sie und die Tür bringen, langsam, ganz allmählich, und ich darf nicht so viel denken, vielleicht leidet die Überzeugungskraft meiner Stimme darunter. Schirin, Schirin, Mädchen, Liebe, aber es ist wahrscheinlich ganz egal, was ich sage, oder vielleicht doch nicht, womöglich dringen doch Bruchstücke in ihr Bewußtsein und bewirken etwas. Sie sieht so entsetzt aus, wenn jemand entsetzt ist, sucht er Schutz, will sich verkriechen, das Bett, vielleicht, wenn ich sie zum Bett hin dirigiere…
Langsam, ganz langsam und vorsichtig bewegte er sich so, daß Schirin in Richtung auf das Bett zurückwich, dabei sprach er immer noch pausenlos, in sanftem, begütigendem Ton, ihren Namen, seinen Namen, die Bitte sich hinzulegen und auszuruhen… Einmal glaubte er eine Änderung in ihrem Gesichtsausdruck feststellen zu können, aber es war wohl nur der Wechsel der Beleuchtung…
Da begann sie zu zittern. Fast unmerklich erst, an den Händen, dann lief das Zittern die Arme hinauf, breitete sich über den ganzen Körper aus, die Zähne klapperten aufeinander, die Augen flackerten; mit einem Satz war Leif bei ihr, hielt sie mit den Armen fest umspannt, drückte sie an sich, fühlte, wie die Zuckungen schlaffer wurden, legte sie auf das Bett, deckte sie zu, sorgfältig, bis an den Hals, schob die Ränder der Decke unter ihre Arme und Schultern. Ihre Stirn war naß und kalt, die Augen geschlossen. Sie atmete flach. Der Puls war schwach.
Leif hatte die ganze Zeit nichts empfunden, außer der fast übermenschlichen Spannung zwischen dem Zwang zu handeln und der Furcht, das Falsche zu tun, und er hatte dieser Spannung standgehalten aus der festen Überzeugung heraus, daß es doch nicht ausgerechnet Schirin treffen könne – oder auch ihn, das war in diesem Augenblick das gleiche, sie waren eins, und außer ihnen war nichts.
Und erst jetzt wurde ihm bewußt, daß diese Überzeugung durch nichts begründet war, und erst jetzt bekam er richtige Angst. Angst um Schirin. Er hastete zum Video.
Eine Viertelstunde später war Dr. Baatz im Kernkraftwerk. Ihre Ruhe, die Kraft
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