Das Raetsel von Flatey
ein
Bündel ungereinigter Daunen aus einer der Tonnen und legte es
auf die Schnüre. Dann begann er, die Daunen zu schütteln
und über die straff gespannten Schnüre zu streichen, um
groben Schmutz und Unreinheiten
herauszulösen.
Er fuhr fort: »Dann sah ich
einen Raben angeflogen kommen, und der setzte sich direkt auf mein
Zelt, das nicht weit entfernt war. Ich wollte ihn verscheuchen,
aber auf einmal konnte ich kaum noch gehen, weil meine Beine schwer
wie Blei geworden waren. Dann kam ein zweiter Rabe und ließ
sich bei dem anderen nieder, und jetzt saßen sie also beide
auf dem Zeltfirst, als ich erwachte. Das habe ich in der Karwoche
jede Nacht geträumt. Ich nenne das den
Langey-Traum.«
Kormákur Kolk verstummte, warf
die grob gereinigten Daunen in eine leere Tonne und holte sich ein
neues Büschel zum Reinigen.
»Und wie wurde dein Traum
gedeutet?«, fragte Kjartan.
»Das ist nicht schwer. Es
bedeutet Todesfälle, mein Lieber, zwei Todesfälle
entsprechend der Anzahl der Raben. Das kann nicht klarer sein. Ein
Rabe auf einem Zelt bedeutet immer einen Todesfall, sowohl im
Wachen als auch im Traum.«
»Wird dann noch einer
sterben?«, fragte Kjartan.
»Das muss nicht sein. Auf den
inneren Inseln starb an Christi Himmelfahrt eine steinalte Frau.
Vielleicht war sie damit gemeint. Das wird sich alles
herausstellen.«
Kormákur Kolk erhob zur
Betonung den Zeigefinger. Kjartan fragte: »Sind viele deiner
Träume in Erfüllung gegangen?«
»Ja, lieber Freund. Einige sind
sogar in die Annalen aufgenommen worden. Am berühmtesten sind
der Sigrid-Traum, der Hjallavík-Traum, der Segel-Traum und
der Widderhoden-Traum. Dann gibt es auch welche, die immer noch
nicht gedeutet werden konnten, obwohl sich viele daran versucht
haben. Das sind der Stagley-Traum, der Kälber-Traum und der
Aschermittwoch-Traum. Willst du dich vielleicht mal daran
versuchen?«
Kjartan zuckte mit den
Achseln.
»Der Kälber-Traum ist
folgendermaßen: Mir scheint, als stünde ich oben bei der
Kirche, und ich sehe, wie drei Adler vom Festland von der Landzunge
Múlanes herübergeflogen kommen. Sie kreisen dreimal
über dem Friedhof, und einer von ihnen setzt sich auf einen
Grabstein, während die anderen wieder den gleichen Weg zum
Festland zurückfliegen. Der Adler, der sich gesetzt hat,
schlägt heftig mit den Schwingen, und ich sehe, dass er ganz
blutig ist, und von seinen Flügelfedern spritzt das Blut in
alle Richtungen. Zum Schluss legt er die Flügel an und wendet
sich in Richtung Hafen. Dort sehe ich einen großen Zweimaster
auf Reede liegen, aber durch die hohle Gasse werden Kälber
hochgetrieben, denen einige Männer folgen, die mit Kronen und
königlichem Ornat geschmückt sind. Dabei wache ich auf.
Was glaubst du, dass so etwas bedeuten
kann?«
»Ich weiß es
nicht«, antwortete Kjartan. »Ich bin nicht sehr gut im
Rätselraten.«
»Diese Träume sind keine
Rätsel. Man muss bloß die Hinweise richtig verstehen.
Der Kälber-Traum steht für große Ereignisse, so
viel steht fest. Drei Adler weisen immer auf große Ereignisse
hin, aber das Blut verheißt nichts
Gutes.«
Kjartan lächelte. »Kannst
du noch mehr solche Symbole
entschlüsseln?«
»Ja doch, eine ganze Reihe. Ein
Schwan steht für Reichtum, ein Bischof für etwas
Schlimmes, Blumen im Sommer für Glück, aber für
Sorgen im Winter, ein König bedeutet Ruhm und Ansehen. Und
außerdem kann das alles auf die verschiedenste Weise
miteinander verquickt sein.«
»Glauben die Leute hier an so
etwas?«, fragte Kjartan.
»Selbstverständlich
glauben alle daran, die sich die Mühe machen nachzudenken.
Glaubst du vielleicht, dass der Schöpfer uns Menschen die
Träume nur zu unserem Vergnügen gegeben hat? Sie sind
Botschaften, die erwachsene Menschen nach und nach zu verstehen
lernen. Alles hat seinen Zweck. Sogar die Huldren und die Elfen
sind da, um in ihren Felsbehausungen ihren Zweck zu
erfüllen.«
»Elfen?« Kjartan war
skeptisch.
»Ja. Hast du nie einen Elf
gesehen?«
»Nein.«
»Du wirst schon noch einen Elf
sehen, mein Freund. Es ist aber schwer zu sagen, ob du ihn erkennen
kannst, wenn es so weit ist.«
»Und wie könnte ich ihn
dann erkennen?«
»Habe ein reines Herz und hege
keine unnützen Zweifel. Die Menschen sind viel zu skeptisch.
Man soll an das glauben, was in den isländischen Sagas steht
und in der Bibel, und an das, was alte Menschen sagen. Dann
können Träume und Wünsche in Erfüllung
gehen.«
Kormákur Kolk hatte seine
Belehrung
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