Das Raetsel von Flatey
kennt, und er sagt, dass
der Mann vorgehabt hat, an diesem Tag mit dem Postschiff nach
Stykkishólmur zu fahren.«
Valdi ging wieder ins Haus und kam
bald darauf mit einer blauen Kladde in der Hand zurück. Er
blätterte darin und las stumm.
»Nein, Herr Gemeindevorsteher.
An diesem Tag habe ich nämlich gar nicht eingetragen, wer nach
Stykkishólmur gefahren ist.«
»Wieso das denn nicht,
Valdi?« Grímur war erstaunt.
»Ich kann mich im Augenblick
nicht daran erinnern.«
Kjartan fragte: »War es
vielleicht deswegen, weil überhaupt niemand mit dem Schiff
weggefahren ist?«
Valdi blickte ihn an.
»Vielleicht.«
»Dürfen wir mal auf die
Seite gucken?«, fragte Grímur.
Valdi schaute von einem zum anderen,
hielt ihnen dann aber die Kladde hin und zeigte ihnen die Seite.
Sie war dicht mit Bleistift beschrieben, und beim Datum vierter
September stand: »Nieselregen, steife Brise, + 4° C.
Passagiere aus Stykkishólmur: Hakon und Filippía.
Waren in Akranes, um sich ein Gebiss machen zu lassen. Der Sohn von
Guðrún von Innerhof kam zu Besuch.« Dann war etwas
Platz freigelassen worden.
Aus dem Haus hörte man einen
Schrei. Der alte Jón Ferdinand kam zur Tür
herausgehumpelt und hielt sich die Hand vor den Mund. »Aua,
aua, aua«, jammerte er. »Ich hab mir den Mund
verbrannt.«
»Verdammt nochmal, was ist denn
jetzt schon wieder los?«, fragte Valdi
schroff.
»Ich habe nur mal den leckeren
Sud von den Mantelmöwchen probiert«, sagte der Alte
niedergeschlagen.
»Bist du denn total
verrückt geworden, das Zeug ist doch kochend
heiß!«, schimpfte Valdi und nahm den Deckel von der
Wassertonne. Er füllte eine Kelle mit Wasser und reichte sie
dem Alten.
»Hier, trink was
Kaltes.«
Jón Ferdinand schlürfte
das Wasser, während Valdi die Besucher
anschaute.
»Ich muss auf den Kerl
aufpassen wie auf einen Säugling«, sagte
er.
Grímur schaute sich Jón
Ferdinands Lippen an. »Er hat richtige Brandblasen«,
sagte er. »Du solltest ihn vielleicht verarzten
lassen.«
»Ich käme ja zu nichts
anderem, wenn ich den Alten jedes Mal, wenn er sich die Schnauze
verbrennt, zum Arzt schleppen würde«, erwiderte Valdi
unwirsch.
»Darf ich vielleicht mal kurz
in deiner Kladde blättern?«, fragte
Kjartan.
Valdi schaute ihn an.
»Wozu?«
»Der Pastor sagt, dass am
zweiten September Leute von Reykhólar herübergekommen
sind. Trägst du es auch in dein Buch ein, wenn von dort ein
Boot kommt?«
»Nein, nein. Es ist
überhaupt nicht möglich mitzuverfolgen, wer alles hier in
Flatey ankommt oder abfährt. Die Boote legen doch an vielen
Stellen an, und man hat ja schließlich genug am Hut. Ich
passe nur auf, wenn samstags das Postschiff kommt. Ich nehme die
Landfesten entgegen, weil ich es ja nicht weit bis zur
Anlegebrücke habe. Irgendwann habe ich dann damit angefangen,
es für mich selbst zu notieren, der Wissenschaft halber und
auch aus Spaß. Bislang hat es noch niemand bei mir einsehen
wollen.«
Grímur seufzte. »Na
schön, mein lieber Valdi. Das bringt uns also auch nicht
weiter. Du denkst aber vielleicht mal nach und versuchst dich zu
erinnern, warum du an diesem Tag nichts eingetragen hast, und
lässt es mich wissen.«
Die drei verabschiedeten
sich.
*
... Die mittelalterlichen
Pergamenthandschriften blieben unterschiedlich gut erhalten. Im 13.
Jahrhundert und zu Anfang des 14. Jahrhunderts wurden
wahrscheinlich viele Handschriften als Handelsware nach Norwegen
exportiert. Aber als sich im späteren 14. Jahrhundert die
norwegische Sprache rasch veränderte, ließ das Interesse
an ihnen sehr bald nach. Man konnte jetzt nicht mehr viel mit
diesen alten Pergamenten anfangen, denn niemand konnte sie mehr
lesen. In Island hingegen war es vermutlich die
übermäßige Benutzung, die ihnen übel
mitspielte. Diese Bücher gingen von Hand zu Hand und wurden
mit der Zeit völlig zerlesen. Es entstanden Abschriften, die
sich besser lesen ließen, und die alten Fetzen gerieten in
Vergessenheit. Und nach der Reformation war man nicht gut auf diese
alten Schriften aus der papistischen Zeit zu sprechen
...
... Man weiß nicht, in
wessen Hände das Buch nach dem Tod von Jón
Hákonarson gelangt ist, aber gegen Ende des 15. Jahrhunderts
war die Handschrift im Besitz von Hofmarschall Þorleifur
Björnsson in Reykhólar. Später besaß sie
Jón Björnsson in Flatey, der ein Enkel von
Þorleifur war, und er wiederum vermachte sie seinem Enkel
Jón Finnsson, der ebenfalls auf Flatey wohnte, und nach
diesem Ort hat sie
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