Das Raetsel von Flatey
Frau blickte entschuldigend nach links und rechts,
schaute dann aber wieder Lund an und bat ihn inständig, mit
ihnen zu reden. Dann hatte es den Anschein, als ob Lund aus einer
Trance erwachte. Er winkte dem Portier und wehrte die Frau mit
beiden Händen ab, während er laut ›Raus,
raus!‹ rief. Der Junge, der bis dahin so brav gewesen war,
fing laut an zu weinen, und die Frau, ja, die Frau. Nie wieder habe
ich einen so furchtbaren Anblick gesehen. Die Würde, die sie
bis dahin ausgestrahlt hatte, verschwand im Handumdrehen. Sie sank
in sich zusammen und starrte auf den Boden, ohne einen Laut von
sich zu geben. ›Raus, raus!‹, brüllte Lund
völlig entnervt und fuchtelte mit den Armen. Der Portier
packte die Frau am Arm und den Jungen im Nacken und schleifte
sie aus dem Haus. Alle, die sich in der Eingangshalle aufhielten,
wurden Zeugen dieses Vorfalls und starrten jetzt auf Lund. Er
drehte sich auf dem Absatz um und rannte nach oben. Die Worte der
Frau halten in der Lobby nach, als die Leute zu reden begannen.
›Sie hat gesagt, dass der Junge sein Sohn sei‹,
hörte man allenthalben auf Isländisch und Dänisch.
Diejenigen, die Lund etwas besser kannten als die anderen,
erinnerten sich daran, dass Lund 1926 nach Island gekommen war.
Konnte es sein, dass er damals ein Verhältnis mit dieser Frau
hatte, die ihm dann einen Sohn geboren hatte? Aber ganz abgesehen
davon, sein Auftreten fanden die Leute mehr als beschämend.
Lund ließ sich auf dieser Reise offiziell nicht mehr blicken.
Die Geschichte wurde natürlich auch in Kopenhagen bekannt, und
auch dort wurde Lunds Verhalten als peinlich empfunden. Ich habe
mir nie ein Gewissen daraus gemacht, davon zu erzählen, wenn
ich gefragt wurde. Ich glaube, dass Lund danach nie wieder nach
Island gekommen ist, bis auf die Reise im letzten
Herbst.«
Árni Sakarías war mit
seiner Erzählung am Ende und konzentrierte sich jetzt auf das
Essen.
»Und wer war diese
Frau?«
Der Schriftsteller schüttelte
den Kopf, während er kaute und schluckte.
»Das weiß niemand.
Niemand im Hotel kannte sie, und sie wurde auch nie wieder dort
gesehen. Ich habe versucht, sie ausfindig zu machen, aber ohne
Erfolg. Niemand in der Stadt konnte mit der Beschreibung, die ich
gab, etwas anfangen. Das Wahrscheinlichste schien, dass sie nicht
aus Reykjavík stammte. Unsere Landsleute in Kopenhagen
wussten etwas mehr über Gaston Lunds Reise im Sommer 1926,
aber niemand konnte sich daran erinnern, dass er sich mit einer
Frau eingelassen hätte. Es fiel natürlich keinem ein,
Lund selbst danach zu fragen, und nach und nach geriet die
Geschichte in Kopenhagen in Vergessenheit.«
*
»18. Frage: Trinkt aus dem
Kiel. Erster Buchstabe.
Egill Ragnarsson kämpfte zu
Schiff mit den Wenden. Als die Schlacht am wildesten tobte, lief
Egill von seinem Schiff auf das Langschiff der Wenden und versetzte
dem Anführer der Wenden einen tödlichen Hieb. Danach
ergriffen die Wenden die Flucht. Egill bat seinen Knappen, ihm
etwas zu trinken zu geben. Der Knappe antwortete: ›Hier ist
heute so ein Kampfgetümmel auf dem Schiff gewesen, dass alle
Fässer zerbrochen sind, und alles Trinkbare ist in den Kiel
geflossen.‹ Egill antwortete: ›Trotzdem werde ich
doch wohl trinken dürfen.‹ Der Knappe antwortete:
›Nein, Herr, denn alles ist zur Hälfte mit Menschenblut
vermischt.‹ Egill stand auf, nahm seinen Helm vom Kopf,
tauchte ihn in den Kielboden und trank dreimal daraus.
Solchermaßen erhielt Egill seinen Beinamen und hieß
seitdem Blut-Egill.
Die Antwort ist Egill, und der erste
Buchstabe ist E.«
Kjartan sagte: »Hier schreibt
Gaston Lund Blut-Egill, und dann ist der erste Buchstabe ein
B.«
Fünfunddreißig
Nach dem Abendessen ging Kjartan zum Steilufer vor dem Haus des
Gemeindevorstehers. Die Abendbrise wehte ihm ins Gesicht, was er
als angenehm empfand. Er beschloss, einen Spaziergang in den
Nordteil der Insel zu unternehmen. Das Dörfchen lag friedlich
da, und außer einem neugierigen Kalb, das zwischen den
Häusern herumstrolchte, begegnete er niemandem. Als er am
Handelsladen vorbeikam, hörte er durch das offene Fenster ein
Radio. Ein wenig später kam er nach Innerhof. Er hatte das
Gefühl, als würde er aus dem Fenster beobachtet, deswegen
vermied er es, in die Richtung zu schauen. Seine Fantasie hatte
diverse Leute mit dem Verschwinden von Gaston Lund in Verbindung
gebracht, sogar die Frauen von Innerhof. Um das zu verdrängen,
schritt er zielstrebig weiter und verließ den Ort. Der
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