Das Raetsel von Flatey
wenn ich nur brav und still war.
Deswegen hat er nie einen Versuch gemacht, mich irgendwo in Pflege
zu geben. Ich bin auch erst richtig zur Schule gegangen, als wir
nach dem Krieg wieder nach Island zurückkehrten. Vati brachte
mir alles bei, was ich zu lernen hatte, und noch viel, viel mehr.
Vielleicht entsprach das nicht unbedingt alles den gültigen
Lehrplänen, denn er gestattete mir meist, selber zu bestimmen,
was ich lesen wollte.«
Sie lächelte bei dem Gedanken
daran. »Ich finde, dass Kinder selbst entscheiden sollten,
was sie lernen. Man sollte ihnen das Lehrmaterial
präsentieren, aber sie dann selbst bestimmen lassen. Das
bedeutet allerdings, dass jedes Kind quasi seinen Privatlehrer
haben muss, und das ist wahrscheinlich nicht sehr
ökonomisch.«
Jóhanna lächelte immer
noch und fuhr dann fort: »Mein Vater bereiste die
skandinavischen Länder und Deutschland und hielt
Gastvorträge an ausländischen Universitäten
über die isländischen Sagas und die Handschriften. Ich
war immer dabei und saß in den Auditorien irgendwo in der
Ecke. Oft habe ich gelesen, wenn ich etwas dabeihatte, oder ich
habe gezeichnet oder geträumt, von Freundinnen und
Spielkameraden. Natürlich hätte ich gern Freunde gehabt,
aber ich wagte nie, das meinem Vater gegenüber zu
erwähnen. Ich hatte solche Angst, dass er mich in ein Internat
stecken würde, damit ich mit anderen Mädchen zusammen
sein konnte. Manchmal redete er darüber, dass es vielleicht
gut für mich wäre, aber ich stritt das rundheraus ab. Er
war das Einzige, was ich hatte, nachdem Mama gestorben war, und ich
konnte mir nicht vorstellen, das zu missen. Ich wollte ihn lieber
auf seinen Reisen begleiten und mich damit abfinden, stundenlang
bewegungslos in stickigen Seminarräumen
herumzusitzen.«
Jóhanna dachte schweigend eine
Weile nach, bevor sie fortfuhr: »Manchmal habe ich Vati
zugehört, wenn er einen Vortrag hielt. Ich war auch dabei,
wenn er seinen Forschungen in der Bibliothek nachging. Da galten
die gleichen Bedingungen. Ich musste mucksmäuschenstill
sein, wenn er arbeitete. Handschriftentexte sind manchmal
äußerst schwierig zu entziffern, und er hatte die
Angewohnheit, laut zu lesen und den Finger unter die Worte zu
legen. Ich stand oft an seiner Seite, hörte zu und schaute
hin. Auf diese Weise habe ich die Orthografie gelernt und wie man
die gotischen Buchstaben und die Kürzel
entziffert.«
Jóhanna verstummte. Kjartans
Frage war beantwortet.
Kjartan warf ein: »Hört
sich an wie ein seltsames Leben.«
»Ja, aber es waren auch
seltsame Zeiten. Ich war nur zehn Jahre alt, als der Krieg
ausbrach, und da hat jeder nur an sich gedacht. Die Leute haben
sich nicht darum gekümmert, wenn ein kleines
ausländisches Mädchen seinen Vater auf Schritt und Tritt
begleitete.«
»Und wo wart ihr während
des Krieges?«
»Wir blieben in Kopenhagen, und
Vati machte weiter mit seinen Forschungen. Nachdem die Deutschen
Dänemark besetzt hatten, fuhr er auch weiterhin zu
Vortragsreisen nach Deutschland. Er war vollkommen unpolitisch, und
es war ihm völlig gleichgültig, wer an der Macht war,
solange er seinen Forschungen nachgehen konnte. Die
mittelalterlichen Sagas zu untersuchen und ihre Geheimnisse anderen
zu offenbaren, das war sein Leben und sein Daseinszweck. In
Deutschland gab es damals natürlich großes Interesse an
so genannten germanischen Studien.«
»Und warum seid ihr dann nach
Island zurückgekehrt?«
»Wir waren dazu gezwungen. Mein
Vater hatte sich während der deutschen Besatzungszeit nicht
klar gemacht, dass seine Kollegen total gegen seine Vortragsreisen
in Deutschland waren. Er begriff so wenig von seiner Umgebung, und
er bekam überhaupt nicht mit, dass sich das Verhalten der
Menschen ihm gegenüber auf einmal änderte. Er brauchte
keine Freunde. Es reichte ihm, immer wieder neue Studenten zu
finden, die bereit waren, ihm ein paar Stunden am Tag
zuzuhören. Für ihn machte es keinen Unterschied, ob er
Isländisch, Dänisch, Schwedisch, Norwegisch oder Deutsch
sprach. Und ich war dabei und lauschte ebenfalls. Aber dann
verloren die Deutschen den Krieg, und an dem Tag, als sie in
Kopenhagen kapitulierten, brach die Welt meines Vaters zusammen. Er
wurde fristlos entlassen und durfte das Handschrifteninstitut nie
wieder betreten. Auch die Königliche Bibliothek war ihm von
jetzt an verschlossen. Flateyjarbók war die Handschrift, die
er am meisten liebte, und sie sollte ihm nie mehr zugänglich
sein. Er war gezwungen, nach Island
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