Das Raetsel von Flatey
hat, als der dänische
König zu einem Staatsbesuch in Island war. Christian der
Zehnte. Der König war diesmal auf Grund der Erfahrungen, die
er bei seinem letzten Besuch gemacht hatte, sehr auf der Hut. Als
er nämlich 1930 wegen der Tausendjahrfeier des Allthings nach
Island gekommen war, wurde, wo er auch hinkam, über die
isländischen Sagas diskutiert. Die Isländer schienen
davon auszugehen, dass er sie in- und auswendig können
müsste, aber er stand natürlich völlig auf dem
Schlauch. Deswegen hatte er diesmal einen dänischen Experten
mitgenommen, der den Isländern ganz bestimmt Paroli bieten
könnte. Das war Gaston Lund. Er sollte den König auf
Schritt und Tritt begleiten und an seiner Stelle antworten, falls
das Gespräch wieder auf die Sagas käme. Als die
isländische Regierung davon erfuhr, bekam man es in diesen
Kreisen doch mit der Angst, dass sich die Isländer vor dem
dänischen Spezialisten womöglich blamieren könnten.
Deshalb wurde ebenfalls ein isländischer Experte hinzugezogen,
der die Aufgabe hatte, die Diskussionen mitzuverfolgen und
einzugreifen, wenn die Isländer in Bezug auf ihre nationalen
Heiligtümer mit ihrem Latein am Ende waren. Ich war derjenige,
den man damit beauftragte. Gleich bei der Ankunft im Hafen zeigte
sich, dass Lund der richtige Mann für diese Aufgabe war, denn
der König hielt eine kleine Ansprache auf Isländisch. Am
folgenden Tag stand eine grauenvolle Tour zum Gullfoss und zum
Geysir auf dem Programm. Übernachtet wurde in Laugarvatn.
Gaston Lund und ich waren wie zwei Kampfhähne, aber wie so oft
bei einem Hahnenkampf ging es mehr ums Scharren und
Flügelschlagen als ums Hacken. Dann glätteten sich die
Wogen, und das Ganze endete mit einem herrlichen
Besäufnis.«
Árni Sakarías musste
bei dem Gedanken daran laut lachen, und dann setzte er seine
Erzählung fort: »Tags darauf auf dem Weg nach
Reykjavík wurde das Kraftwerk Sogið besucht und dort
eine idiotische Einweihungsfeier gehalten. Abends gab es hier im
Hotel Borg ein Staatsdiner, und da beginnt die eigentliche
Geschichte.«
Árni Sakarías beugte
sich über den Tisch zu Dagbjartur hinüber und senkte die
Stimme: »Ich kam früh ins Hotel, denn ich hatte etwas
mit Gaston Lund zu besprechen und wollte das noch vor dem Galadiner
erledigen. Ich meldete mich in der Rezeption, und ein Piccolo wurde
mit meiner Nachricht nach oben auf sein Zimmer geschickt. Ich
wartete geduldig unten, denn ich wusste, dass er sich für das
Bankett zurechtmachte, und das konnte einige Zeit dauern. Die
ausländischen Gäste trafen nach und nach in der Rezeption
ein und warteten darauf, dass die Türen zum Speisesaal
geöffnet würden. Ich grüßte einige von ihnen,
die ich kennen gelernt hatte. Obwohl es recht voll war, bemerkte
ich trotzdem eine junge Frau, die auf einem Stuhl in der Rezeption
saß und offensichtlich auf etwas wartete. Sie wirkte sehr
sympathisch und war adrett, aber unauffällig gekleidet. An
ihrer Seite stand ein kleiner Junge, etwa neun Jahre alt. Er war
ebenfalls sehr ordentlich gekleidet und blitzsauber. Die beiden
hielten sich bescheiden zurück, und wahrscheinlich war ich der
Einzige, der sie beachtete. Obwohl die Frau um einiges jünger
war als ich, gestattete ich mir doch, ihr ab und zu Blicke
zuzuwerfen. Unter den geladenen Gästen befand sich keine
einzige Frau, die eine vergleichbare Augenweide gewesen wäre,
und ich habe es mir noch nie verkniffen, schöne Frauen zu
bewundern, wann immer sich die Gelegenheit bot. Es verging eine
Weile, bis Gaston Lund sich blicken ließ. Ich stand etwas
abseits und sprach mit einem Mann aus dem Gefolge des Königs,
daher bemerkte ich nicht sofort, dass er die Treppe herunterkam.
Aber dann konnte ich beobachten, dass er auf der untersten Treppe
wie vom Donner gerührt stehen blieb und auf die Frau und den
Jungen starrte, die quer durch die Lobby zu ihm hingingen. Die Frau
sagte etwas zu ihm, als sie vor ihm stand, und streckte ihm die
Hand zum Gruß hin. Er reagierte merkwürdig, erwiderte
ihren Gruß nicht und hielt die rechte Hand hinter den
Rücken, so als wolle er vermeiden, dass die Frau seine Hand
ergreifen konnte. Die Frau packte dann den Jungen bei den
Schultern, schob ihn zu Lund hinüber und sagte laut auf
Dänisch: ›Gaston Lund, der Junge ist dein Sohn.‹
Lund wich zwei Treppenstufen zurück, der Mund stand ihm vor
Schreck offen, und er starrte die beiden fassungslos an.
Mittlerweile waren die Umstehenden auf die Szene aufmerksam
geworden. Die
Weitere Kostenlose Bücher