Das Raetsel von Flatey
zurückzukehren, wo er sich
glücklich preisen konnte, eine Stelle als Mittelschullehrer zu
bekommen.«
»Musste er denn bei seinen
Forschungen Zugang zum Originalmanuskript haben? Konnte er nicht
mit dem Faksimile arbeiten?« Kjartan deutete auf das Buch,
das aufgeschlagen vor Jóhanna lag.
»Gute Frage. Hat so eine alte
Pergamenthandschrift überhaupt irgendeinen besonderen Wert?
Alles, was uns möglicherweise der Text sagen kann, ist schon
längst buchstabengetreu abgeschrieben und sogar abfotografiert
worden, wie du siehst. Was übrig bleibt, ist eine Kostbarkeit,
die äußere Hülle um geistige Inhalte, die schon
längst ihren Zweck erfüllt haben. Warum lassen sich dann
einige Menschen so von diesen alten Pergamenten
faszinieren?«
Sie blickte Kjartan in die Augen,
aber er wusste keine Antwort auf diese Frage. Sie antwortete
deswegen selbst: »Wenn wir dieses Buch anschauen und es in
die Hand nehmen, kommen wir in unmittelbaren Kontakt mit Menschen,
die im 14. Jahrhundert gelebt haben. Wir spüren ihre
Präsenz in der Aura des Buches. Es war genau diese Nähe,
die mein Vater brauchte, von der er zehrte. Ich glaube, es gibt nur
wenige, denen eine solche Verbindung gelang. Für viele ist das
nur Handschrift Nummer 1005 folio in der Königlichen
Bibliothek.«
»Hast du die
Originalhandschrift gesehen?«
»Ja, das habe ich, und ich habe
fast jede Seite gelesen, indem ich meinem Vater über die
Schulter guckte.«
»Hast du auch diese
Präsenz gespürt?«
»Nicht so wie mein Vater, aber
auch für mich ist dieses Buch das Schönste, was ich je
gesehen habe. Diese glänzenden schwarzen Buchstaben auf dem
hellbraunen Pergament sind wie endlose Perlenschnüre. Die
Illuminationen sind für mich wie die schönsten Fresken in
den Gewölben königlicher Paläste. Dieser
Faksimile-Druck ist leider nur ein Schatten des
Originals.«
Jóhanna ließ die
Blätter durch die Finger gleiten. »Wenn ich diese Seiten
anschaue, habe ich das Gefühl, als wenn ich Fotos von nahen
Verwandten und Freunden betrachte. Das ist sehr schön, aber
ich würde die Originale vorziehen. Jede Seite in diesem Buch
ist wie ein alter Freund, den man gerne wiedersehen
würde.«
»Erzähl mir etwas
über Flateyjarbók«, bat er.
Sie überlegte: »Willst du
eine lange Geschichte hören oder eine kurze?«, fragte
sie schließlich.
»Eine lange Geschichte, wenn du
Zeit dafür hast.«
Sie schaute aus dem Fenster, wo die
Sonne hinter den Bergen im Nordwesten unterging, und sagte leise:
»Jetzt habe ich genug Zeit.«
Dann begann sie mit ihrer
Erzählung, und damit verbrachten sie die nächsten
Stunden, ohne eine Pause zu machen. Kjartan hörte zu, und
beide vergaßen sie die Zeit.
Endlich war die Geschichte beendet,
und Jóhanna blätterte schweigend in der
Munksgaard-Ausgabe. Kjartan schwieg ebenfalls und dachte nach. Dann
zog er das Blatt mit Gaston Lunds Lösungen aus der Tasche, das
Pfarrer Hannes ihm überreicht hatte.
»Kennst du dich mit der
Geschichte des Flatey-Rätsels aus?«, fragte
er.
Jóhanna nickte zustimmend.
»Ich kenne die Fragen. Mein Vater vertrieb sich die Zeit
damit, den Lösungsschlüssel zu
knacken.«
»Hat er das Rätsel
lösen können?«
»Er hatte herausgefunden, wie
der Code funktioniert. Mir ist nicht bekannt, dass jemand anderes
jemals so weit gekommen ist, aber er profitierte natürlich
davon, dass er hier wohnte und täglichen Zugang hatte. Er
wusste, dass die Antworten zu den 39 Fragen völlig
bedeutungslos waren, solange man nicht die Antwort auf die
vierzigste Frage gefunden hatte. Ohne sie ist es nicht möglich
herauszufinden, ob die anderen Antworten richtig sind. Er mutete
sich an dem Abend, als es ihm gelang, den Code zu
entschlüsseln, zu viel zu und erlitt hier in der Bibliothek
einen Zusammenbruch. Als ich kam, lag er hier auf dem Boden.
Kormákur Kolk hat mir dabei geholfen, ihn mit dem Handwagen
nach Hause zu befördern. Danach ist mein Vater nicht wieder
auf die Beine gekommen, um das Werk zu vollenden, und er wollte
nicht, dass ich für ihn weitermachte. Seine Unterlagen sind
hier in dieser Mappe.« Jóhanna nahm ein Bündel
Papiere aus einem der Bücherregale.
Kjartan erklärte: »Ich
habe die Abschrift der Antworten des Professors. Kannst du mir
helfen, die Fragen und Antworten zu
verstehen?«
»Ja, wahrscheinlich«,
sagte sie nachdenklich. »Ich kann es
versuchen.«
Jóhanna schlug die
Munksgaard-Ausgabe dort auf, wo die losen Blätter mit dem
Flatey-Rätsel lagen. Sie legte
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