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Das Raetsel von Flatey

Das Raetsel von Flatey

Titel: Das Raetsel von Flatey Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Arnar Ingólfsson
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vom Rathof war ebenfalls mit den
Kühen ihres Vaters unterwegs.
    »Onkel Grímur, Onkel
Grímur«, rief sie aufgeregt, als sie sich begegneten.
»Svenni sagt, dass auf dem Friedhof ein roter Engel ist.
Glaubst du, dass das stimmt?«
    »Es gibt bestimmt viele Engel
auf dem Friedhof, liebe Rósa, man kann nie wissen, ob da
nicht vielleicht auch ein roter dabei ist.«
    »Ja, aber normalerweise kann
man sie nicht sehen. Svenni behauptet, dass man diesen ganz
deutlich sehen kann.«
    »Und wann hat der kleine Svenni
denn diesen Engel gesehen?«
    »Vorhin. Er ist nämlich
heimlich auf den Friedhof gegangen, um Eier von den
Küstenseeschwalben zu sammeln. Er hat solche Angst gekriegt,
dass er direkt wieder nach Hause gerannt ist. Vielleicht hat sich
dieser Engel ja gezeigt, weil Svenni die Eier auf dem Friedhof
stehlen wollte.«
    »Ich glaube nicht, dass Gott
extra einen Engel schickt, bloß weil wir ein paar
Küstenseeschwalbeneier vom Kirchhof
mausen.«
    »Der Pastor sagt aber, dass man
keine Eier vom Friedhof nehmen darf. Er ist heilig. Da darf man
noch nicht mal Sauerampfer pflücken«, erwiderte
Rósa ernst.
    Sie trieben die Kühe durch das
Gatter an der Weide und verschlossen anschließend das Gatter
mit einem Riegel.
    »Na, jetzt seht mal zu, dass
ihr euch ordentlich die Bäuche voll stopft«, gab
Grímur seinen Kühen mit auf den Weg.
    »Wollen wir uns den Engel
anschauen, Onkel Grímur?«, schlug Rósa
vor.
    Grímur lächelte ihr zu:
»Ja, wir können auf dem Weg zurück ganz gut auf dem
Friedhof vorbeischauen, auch wenn es ein bisschen regnet«,
sagte er. »Man kriegt ja schließlich nicht jeden Tag
einen richtigen Engel zu sehen.«
    Sie gingen gemächlich
zurück, bogen dann aber von der Straße ab und gingen auf
einem schmalen Pfad weiter, der zum Friedhof führte. Dort
schien auf den ersten Blick alles in Ordnung zu sein. Die kleinen
Gitter um die Gräber herum standen dort in dem hohen gelben
Gras vom letzten Herbst dicht beieinander, und bei dem Nieselregen
glänzten die nassen Eisengitter. Allerdings waren die
Küstenseeschwalben, die im südlichen Teil des Friedhofs
nisteten, ziemlich unruhig. Kreischend kreisten sie über einer
Grabstätte, und Grímur glaubte etwas zu sehen, was
vorher nicht dort gewesen war.
    Rósa sah es auch und blieb
stehen. Sie zog an Grímurs Jacke und flüsterte:
»Onkel Grímur, Onkel Grímur, ich glaube, ich
schau mir den Engel etwas später an. Mir ist gerade
eingefallen, dass ich direkt nach Hause kommen
sollte.«
    »Ja, ja, geh nur schnell nach
Hause«, sagte Grímur, aber sie hatte das gar nicht
erst abgewartet, sondern war bereits den gleichen Weg
zurückgelaufen und verschwand gerade hinter der Böschung,
ohne sich noch einmal umzublicken.
    An dieser Seite des Friedhofs gab es
kein Tor, aber Grímur fiel es nicht schwer, über den
niedrigen Maschendraht zu steigen, obwohl er etwas steif in den
Hüften war. Es schien ihm angebracht, sich zu bekreuzigen,
bevor er weiterging. Aufgebrachte Küstenseeschwalben
stürzten sich jetzt auf Grímur und stießen auf
seinen Kopf hinunter, während er die schmalen Pfade zwischen
den Gräbern entlangging. Er wehrte sie mit der Hand ab und
schob dann seine Schirmmütze in den Nacken, sodass der Schirm
nach oben wies. Die angriffslustigsten Vögel hackten mit den
Schnäbeln hinein, und auf diese Weise blieb seine Glatze
verschont. Solchermaßen gewappnet hatte er schon
unzählige Begegnungen mit Küstenseeschwalben
überstanden, und ihre Angriffe störten ihn nicht weiter.
Seine Aufmerksamkeit richtete sich jetzt voll und ganz auf das, was
er vor sich
sah.         

    Als Grímur sich dem Grab
Schritt für Schritt näherte, schien das, was da
zusammengesunken über einem Grabstein lag, zunächst
tatsächlich einem roten Engel zu gleichen, wie der kleine
Svenni gesagt hatte. Als er direkt davor stand, sah er einen halb
nackten blutigen menschlichen Leichnam vor sich, der auf dem Grab
kniete. Die Arme und der Kopf hingen über einem weißen
Grabstein. Auf dem nackten Rücken war etwas, das von weiter
weg so ausgesehen hatte wie feuerrote kleine Flügel, denn Blut
war mit dem Regen über den Körper geronnen. Mantel,
Jackett und das weiße Hemd des Mannes waren bis zur Taille
heruntergezogen worden.
 
    Grímur hielt inne und
schluckte, um die trockene Kehle anzufeuchten. Dann trat er
näher, um herauszufinden, wer dort so schauerlich die Nacht
verbracht hatte.
    *
    »20. Frage: Der Kopf tötet
einen Mann, obwohl er nicht mehr am Rumpf

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