Das Raetsel von Flatey
Pfeile. Und jeder Pfeil traf einen Mann, der auf diese
Weise ums Leben kam.
Die Antwort ist Opferlamm, und der
erste Buchstabe ist O.«
Achtunddreißig
Die Nachricht von einem weiteren Todesfall auf Flatey passte
Dagbjartur gar nicht in den Kram. Jetzt wusste er, dass es mit der
Ruhe vorbei war. Jetzt musste er seine Ermittlungen der letzten
Tage übersichtlich zusammenstellen und einen Bericht
verfassen. Das Schlimmste war, dass er noch gar nichts zu Papier
gebracht hatte. Jetzt würde dieser Fall Priorität
erhalten, ein zuverlässiger Mann mit der Leitung beauftragt
und die besten Kriminalbeamten auf die Insel geschickt werden. Das
einzig Positive an diesem Morgen war die Aussicht, dass wenigstens
nicht er nach Flatey fahren müsste.
Dagbjartur hämmerte mit zwei
Fingern die Ergebnisse seiner Gespräche mit Friðrik
Einarsson und Árni Sakarías in die Schreibmaschine.
Die wichtigsten Informationen nahmen gar nicht viel Text in
Anspruch, aber es dauerte trotzdem ganz schön lange. Seine
klobigen Finger irrten steif über die Tasten und trafen nicht
immer die richtigen.
Der Abteilungsleiter überflog
das Machwerk seines Untergebenen.
»Das Rätsel von
Flatey?«, fragte er ungehalten. »Was sind denn das
für Kindereien?«
Dagbjartur ging in die Defensive:
»Der Bevollmächtigte des Bezirksamtmanns in
Patreksfjörður hielt das für
wichtig.«
»Na schön. Aber was ist
hiermit? Ein uneheliches Kind. Das könnte etwas sein, was sich
näher zu untersuchen lohnt. Wer ist die
Frau?«
»Das weiß man
nicht.«
»Weiß man nicht! Was hast
du eigentlich die letzten Tage gemacht?«
»Das hier.« Dagbjartur
deutete trotzig auf seine Blätter. »Aber niemand kennt
diese Frau.«
»Gibt es denn nicht
irgendwelche Verzeichnisse über Geburten in dem betreffenden
Jahr, die man durchforsten könnte?«
»An Pfingsten ist doch
überall geschlossen.«
»Na schön. Bleib weiter am
Ball und halte mich auf dem Laufenden.«
Den Rest des Tages verbrachte
Dagbjartur damit, Freunde, Verwandte und Arbeitskollegen von
Bryngeir abzuklappern, um Informationen über sein Leben und
seine Angewohnheiten zu erhalten. Die Arbeitskollegen schienen in
der Mehrzahl froh zu sein, dass sie ihn los waren, obwohl sie es
nicht direkt so sagten.
Die Liste mit den Angehörigen
war kurz. Sein Großvater mütterlicherseits lebte in
einem Altersheim in Stokkseyri, und ein Bruder seiner Mutter hatte
einen Hof in Skaftafell. Dagbjartur versuchte, in Stokkseyri
anzurufen, bekam aber zu wissen, dass der alte Mann taub und
außerdem nicht imstande sei, ans Telefon zu kommen. Als er
endlich den Onkel in Skaftafell an der Strippe hatte, brauchte der
erstmal geraume Zeit, um sich daran zu erinnern, dass er einen
Neffen dieses Namens hatte. Er hatte nichts von seinem Tod erfahren
und schien nicht sonderlich davon berührt zu sein, erkundigte
sich aber nach irgendwelchen Hinterlassenschaften.
Die angeblichen Freunde erwiesen sich
eher als Bekannte denn als gute Freunde von Bryngeir, und der
Verlust schien ihnen nicht allzu nahe zu gehen. Es hatte nicht den
Anschein, dass irgendjemand um ihn trauerte.
Dagbjartur kratzte das eine und
andere zusammen, und es gelang ihm, eine einigermaßen
zufrieden stellende Beschreibung von Bryngeirs Persönlichkeit
zusammenzustellen, die er abends seinem Vorgesetzten vorlegen
konnte.
*
»22. Frage: Kleines Herz.
Erster Buchstabe.
Thorgeir Hávarsson kam nach
Hvassafell, und draußen befanden sich einige Männer. Der
Schafhirte war auch zum Hof gekommen, stand auf der Wiese und
stützte sich auf seinen Stab. Er war etwas krumm, und deswegen
wirkte sein Hals sehr lang. Als Thorgeir das sah, holte er mit der
Axt aus und ließ sie auf den Nacken niedergehen. Die Axt war
so scharf, dass der Kopf abflog und weit entfernt zu Boden ging.
Später sagte Thorgeir über diesen Totschlag: ›Er
hatte mir überhaupt nichts getan, und es stimmt, dass ich mich
einfach nicht beherrschen konnte, weil er so passend dastand
für einen Hieb.‹ Nach Thorgeirs Tod heißt es,
dass man sein Herz untersuchte, um zu sehen, wie das Herz eines so
tapferen Mannes beschaffen war. Aber das Herz war besonders klein,
und deswegen glauben viele daran, dass die Herzen von tapferen
Kämpen kleiner sind als die von
Feiglingen.
Die Antwort ist Thorgeir, und der
erste Buchstabe ist T.«
Neununddreißig
Die Frauen von Innerhof waren an diesem Morgen wegen des Wetters
nicht aus dem Haus gegangen und hatten kaum jemanden auf den Wegen
gesehen. Sie
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