Das Raetsel von Flatey
Ásmundur war richtig zappelig vor Spannung. Als er
morgens seinen Laden öffnete, war das Gerücht von einer
Schreckenstat auf dem Friedhof bereits im Umlauf. Ásmundur
hatte Kormákur Kolk erwischt, der ihm sagte, dass der
Reporter aus Reykjavík tot auf einem der Gräber
läge. Im Lauf des Vormittags kam etwas mehr Licht in die
Sache, und das versprach ein lebhaftes Geschäft. Unter dem
Vorwand, etwas einkaufen zu müssen, kamen die Inselbewohner
mehrmals am Tag in den Laden, aber es ging natürlich nur
darum, Neuigkeiten in Erfahrung zu bringen. Also musste man jedes
Mal etwas kaufen, damit die Neugierde nicht allzu auffällig
wäre. Allen war es zu peinlich, im Geschäft
herumzulungern, deswegen kam man lieber etwas später noch
einmal wieder, um noch eine Kleinigkeit zu kaufen. Man erwartete
sogar Leute von den inneren Inseln, die angeblich dringende
Geschäfte zu erledigen hatten.
Das Gerücht, das die Runde
machte, war folgendes: Der Reporter Bryngeir aus Reykjavík
war morgens früh übel zugerichtet auf dem Friedhof
gefunden wurden. Man konnte sich nicht ganz einigen, wer ihn zuerst
gefunden hatte. Jetzt hatte der Gemeindevorsteher den Friedhof
gesperrt und einen Wachtposten am Tor aufgestellt. Die mit der
Ermittlung beauftragten Kriminalpolizisten aus Reykjavík
waren bereits unterwegs und wurden erwartet. Der
Bevollmächtigte des Bezirksamtmanns war dabei beobachtet
worden, wie er sich direkt vom Friedhof zu Högni ins Schulhaus
begab. Anschließend war er nach Bakki gegangen und hatte das
Haus nicht mehr verlassen. Die Ärztin hatte zunächst in
Reykjavík angerufen und mit den obersten
Polizeibehörden gesprochen. Und dann hatte der
Gemeindevorsteher ein paar Mal telefoniert. Der Pastor hatte um
vier Uhr eine Gebetsstunde angesetzt, und zwar im Schulhaus, denn
die Kirche lag im Sperrgebiet, das der Gemeindevorsteher bewachen
ließ.
Diese Geschichte wiederholte
Ásmundur tagsüber wer weiß wie oft, während
er alle möglichen überflüssigen Waren abfertigte,
die von den Leuten gekauft
wurden.
*
»24. Frage: Entsetzlich
zugerichtet und doch geheilt. Neunter Buchstabe.
Nach dem Tod von König Olaf
dem Heiligen entstanden viele Legenden über seine
wundertätige Hilfe, wenn man Olaf anrief. Die
Kirchenmänner, die das Material für Flateyjarbók
zusammenstellten, haben diese Geschichten gewissenhaft
aufgezeichnet. Am schlimmsten wurde der Priester Reichgard
behandelt. Man brach ihm beide Beine und schleppte ihn gemeinsam in
den Wald. Man band ihm ein Seil um den Kopf und legte ihm eine
Planke unter die Schultern, schlang das Seil zu einer Schleife und
zog fest an. Einar nahm einen Pflock und setzte ihn dem Priester
aufs Auge, und sein Knecht, der daneben stand, schlug mit dem Beil
darauf. Das Auge sprang heraus und landete im Bart. Dann setzte er
den Pflock auf das andere Auge, und der Augapfel fiel auf das
Wangenbein. Danach öffneten sie ihm den Mund, packten seine
Zunge, zogen sie heraus und schnitten sie ab. Danach lösten
sie seine Fesseln an den Armen und am Kopf. Als er wieder zur
Besinnung kam, schob er die Augäpfel mit beiden Händen
wieder zurück an ihren Platz und hielt sie fest. Sie fragten,
ob er sprechen könne. Er bewegte die Zunge und versuchte zu
sprechen. Da sprach Einar zu seinem Bruder: ›Wenn er sich
erholt und der Zungenstumpf heilt, könnte ich mir denken, dass
er reden wird.‹ Dann kniffen sie den Zungenstumpf mit einer
Zange fest, zogen ihn heraus und schnitten ihn entzwei, und als
Drittes zerschnitten sie die Zungenwurzeln und ließen ihn
dann halb tot da liegen ... Es bedurfte großer Gnade, um
diese Verstümmelungen zu heilen, aber weil der heilige
König Olaf wundertätig eingriff, wurde der so schrecklich
Zugerichtete wieder ganz gesund.
Die Antwort ist Reichgard, und der
neunte Buchstabe ist D.«
Einundvierzig
Als die zwei Kriminalbeamten aus Reykjavík abends um elf in
Flatey eintrafen, regnete es immer noch. Kurz nachdem
Jóhanna eine Telefonverbindung mit der Polizeibehörde
bekommen und gemäß den Anweisungen von Grímur um
Verstärkung gebeten hatte, waren sie aufgebrochen. Eines der
Küstenschutzboote, das auf den Fischbänken vor den
Westfjorden stationiert gewesen war, war ihnen entgegengekommen und
hatte sie von Stykkishólmur nach Flatey gebracht. Das Schiff
lag jetzt am neuen Kai vertäut und wirkte im Halbdämmer
der Sommernacht grau, nass und düster.
Grímur nahm die Polizisten auf
dem Kai in Empfang, und außer ihm waren noch
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