Das Raetsel von Flatey
vielleicht
versuchen, euch zu erklären, was damals vorgefallen ist, denn
ich bezweifle stark, dass deine Leute imstande oder auch nur daran
interessiert sind, dem, was wirklich geschah, auf den Grund zu
kommen.«
Jóhanna erzählte den
Kriminalbeamten, wie sie auf den Reisen mit ihrem Vater
aufgewachsen war, die ihn in die skandinavischen Länder und
nach Deutschland geführt hatten. Wie ihr Vater auch nach der
Besetzung Dänemarks weiterhin nach Deutschland reiste und sich
dadurch den Unmut seiner Kollegen am Handschrifteninstitut und an
der Königlichen Bibliothek zuzog. Als der Krieg zu Ende war,
zogen die Deutschen aus Kopenhagen ab.
»An diesem Morgen ging ich wie
gewöhnlich mit meinem Vater zum Institut, aber als wir dort
ankamen, wurde er nicht hineingelassen. Einer der Direktoren kam
und verkündete ihm, dass seine Stelle niedergelegt worden sei
und dass er keinen Zugang zur Handschriftensammlung mehr habe. Er
bekam keinerlei Erklärung und wurde des Hauses verwiesen, als
er lautstark protestierte. Einige Angestellte waren Zeugen dieser
Szene, darunter Professor Lund. Ich weiß nicht, wie es
geendet hätte, wenn nicht Friðrik Einarsson, ein
isländischer Freund meines Vaters, hinzugekommen wäre und
sich eingeschaltet hätte. Er hat uns danach mit zu sich nach
Hause genommen und uns eine Stärkung angeboten. Er konnte
meinem Vater sagen, dass seine Vortragsreisen nach Deutschland
wahrscheinlich der Grund dafür waren, dass ihm jetzt diese
feindselige Haltung entgegengebracht wurde. Einige Zeit später
schlug er vor, dass wir zusammen mit ihm und seiner Familie nach
Island zurückkehren sollten, um dort abzuwarten, bis sich die
Wogen geglättet
hätten.«
»Ihr seid nach Island
zurückgekehrt?«
»Ja.«
»Und seid nie wieder nach
Kopenhagen gefahren?«
»Nein.«
»Warum
nicht?«
»Mein Vater hat sich sehr darum
bemüht, seine Stelle dort wiederzubekommen, aber es gelang ihm
nicht. Außerdem wollte ich jetzt nicht mehr von Island weg,
denn ich hatte Einar, den Sohn von Friðrik, kennen gelernt, als
wir bei ihnen in Kopenhagen waren und mit ihnen gemeinsam mit dem
Schiff nach Island fuhren. Er war mein erster gleichaltriger
Freund, und später verliebten wir uns. Er war sehr begabt, und
ich konnte mir nicht vorstellen, ihn zu verlassen. Wir waren in den
ersten Jahren im Gymnasium zusammen, aber dann starb er bei einem
Unfall.«
Ingimundur notierte sich etwas und
sagte dann: »Du wurdest gebeten, die sterblichen
Überreste von Gaston Lund zu untersuchen, nachdem man ihn
gefunden und hierher nach Flatey gebracht hatte, nicht
wahr?«
»Ja.«
»Aber du hast ihn nicht
erkannt?«
Jóhanna lächelte schwach.
»Ich könnte jetzt einfach nein sagen. Niemand
könnte daran zweifeln, dass das die Wahrheit wäre,
gemessen daran, in welchem Zustand die Leiche war. Und
wahrscheinlich würde es meine Probleme erheblich verringern,
wenn ich das behaupten würde. Aber ich möchte nicht
lügen. Als ich die Kiste öffnete, habe ich sofort
gewusst, wer es war.«
»Und warum hast du das in
deinem Bericht nicht erwähnt?«
»Ich war so schockiert. Und ich
dachte an meinen Vater. Weil der Krebs so weit fortgeschritten war,
wusste ich, dass er nur noch wenige Tage zu leben hatte. Er litt
aber nicht sehr, denn das, was ich ihm gegen die Schmerzen gab,
half ihm. Angesichts dieser Tatsache wollte ich unter keinen
Umständen, dass er die letzten Stunden seines Lebens im
Entsetzen über das Schicksal seines Freundes verbringen
sollte. Ich beschloss deshalb, eine kleine Frist herauszuschinden,
während ich selbst versuchte, damit fertig zu werden. Es
konnte ja in Bezug auf die Ermittlung keine so große Rolle
spielen, der Mann war ja schon seit vielen Monaten tot. Diese Frist
bestand aus einem Tag und einer Nacht. Mein Vater starb, ohne dass
er von diesem furchtbaren Ereignis erfahren
musste.«
Lúkas hüstelte einige
Male, um Jóhannas Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Jetzt
war die Reihe an ihn gekommen. »Das war ja eine interessante
Geschichte«, sagte er und befeuchtete sich die Lippen.
»Aber meiner Meinung nach hat es sich in Wirklichkeit ein
wenig anders zugetragen. Beispielsweise so: Lund stattete dir als
Ärztin und Verwalterin der Apotheke einen Besuch ab. Was
zwischen euch vorfiel, weiß ich nicht genau, aber er
verlangte ein Mittel gegen Seekrankheit. Du hast ihm irgendwelche
Tabletten ausgehändigt und ihm geraten, sofort eine zu nehmen,
vielleicht sogar zwei. Er tat es, wurde bald schlapp und
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