Das Raetsel von Flatey
schlief
dann ein. Du hast doch Zugang zu starken Betäubungsmitteln,
nicht wahr? Wir können doch bestimmt die diesbezügliche
Kartei einsehen.«
Jóhanna schaute ihn
völlig verblüfft an. »Das ist richtig, die kleine
Apotheke im Arzthaus ist gut ausgestattet, aber abgesehen davon ist
deine Idee völlig absurd.«
»Na, sehen wir mal weiter. Lund
ist in deinem Wohnzimmer eingeschlafen. Vielleicht musste ihm eine
Spritze gegeben werden oder so was, damit er weiterhin schlief, und
zwar so tief wie möglich. Tja, und dann hast du ihn in der
Nacht in irgendein Boot gebracht und bist mit ihm auf die einsamste
Insel im ganzen Breiðafjörður gefahren, die du
kanntest. Wir wissen, dass zu dieser Zeit auf einem Boot hier in
Flatey ziemlich viel Treibstoff abhanden gekommen ist. Du kannst
mit einem Motorboot umgehen, nicht wahr? Und natürlich
weißt du, dass ich mir ganz leicht Informationen darüber
verschaffen kann.«
»Stimmt, ich kann
einigermaßen mit einem Boot umgehen. Aber ich habe nicht die
geringste Ahnung, wo Ketilsey hier im Fjord liegt. Außerdem
habe ich keinesfalls die Kraft, einen ausgewachsenen Mann auch nur
ein paar Meter zu schleppen, geschweige denn auf ein Boot und aus
dem Boot wieder an Land.«
»Womöglich hat dir ja dein
verstorbener Vater bei dem Transport geholfen? Er war vielleicht im
Herbst noch etwas besser bei Kräften als jetzt in den letzten
Tagen. Und außerdem willens, sich zu rächen. Den
Transport hätte man auch mit einer Schubkarre bewerkstelligen
können. Von denen gibt’s einige hier auf der
Insel.«
»Das ist eine absolut
geschmacklose Unterstellung!«
»Mag sein, aber es ist einfach
nicht möglich, diese grauenvolle Tat zu beschönigen. Und
deinen Ideenreichtum. Die Rache sollte nachhaltig und
endgültig sein. Was glaubst du, wie es diesem Mann dort
ergangen ist, als er erwachte und ihm klar wurde, wo er sich
befand?«
Jóhanna schaute Lúkas
lange an, bevor sie antwortete.
»Was ich glaube, wie es ihm
ergangen ist? Das kann ich dir sagen. Die ersten Stunden war er
wütend, dann außer sich vor Zorn. Er hat gerufen und
geschrien und gebrüllt und gebrüllt. Dann wurde ihm kalt,
und als die Dunkelheit hereinbrach, bekam er Angst. Und ihm wurde
immer kälter, und er bekam noch mehr Angst und fing an zu
weinen. Als die Sonne am nächsten Morgen aufging, war er
hungrig und durstig und sehr müde. Er hat ein paar
Treibholzbrocken zusammengesucht und sich einen notdürftigen
Unterschlupf gebaut, indem er sie bei einem Felsen aufstellte, und
er hat Steine und Tang verwendet, um ihn abzudichten. Dann ist er
da hineingekrochen und hat sich hingelegt. Vielleicht hat er ein
oder zwei Stunden geschlafen, ist dann aber zitternd vor Kälte
hochgeschreckt. Dann fing es an zu regnen. Am Strand fand er einen
alten Kunststoffbehälter, in dem er Regenwasser auffangen
konnte. Er trank und trank, aber er selber wurde im Regen
klatschnass. Er kroch in seinen Unterschlupf, da regnete es
wenigstens nicht auf ihn. Aber er war nass, und in der Nacht war
ihm kälter als je zuvor. Er lag viele Stunden zitternd da, und
zum Schluss hielt er es nicht mehr aus, sondern kroch heraus und
bewegte sich, um sich zu wärmen. Das half etwas, aber da es
immer noch regnete, wurde er noch nasser, und er fror noch mehr. Am
nächsten Tag klarte es auf, und die Sonne kam zum Vorschein.
Es gelang ihm, ein paar Stunden zu schlafen. Dann ging er zum
Strand, um etwas Essbares zu finden. Er grub einen Wattwurm aus. Er
fand eine lebende Muschel. Das führte er sich zu Munde und
spülte es mit dem Wasser herunter, ohne zu kauen. Er konnte
sich nicht vorstellen, auf dieses Ungeziefer zu beißen. Er
legte Steine im Gras zurecht, die ein großes S. O. S.
bildeten. Vier Tage später hatte er eine Erkältung
bekommen, am folgenden Tag hatte er einen schlimmen Husten, und
dann bekam er eine Lungenentzündung. Dann reihte er kleine
Steine auf einen Felsen auf, die eine Nachricht darstellten. Er
hustete und hustete bis zum Erbrechen, und er hatte hohes Fieber.
Dann hörte er auf zu zittern. Und dann starb
er.«
Lúkas verschlug es die
Sprache. Schließlich fragte Ingimundur: »Und woher
weißt du das alles?«
Jóhanna antwortete: »Das
ist nichts, was ich mit Bestimmtheit weiß, ich kann es mir
nur vorstellen. Und das will ich dir sagen, ich habe seit dem
Moment, als ich ihn in der Kiste sah, unablässig an ihn denken
müssen und habe mit ihm gelitten und versucht, mich in seine
Situation zu versetzen, habe
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