Das Raetsel von Flatey
versucht, mich zu überzeugen,
dass es schnell gegangen ist und dass er keine unerträglichen
Schmerzen gehabt hat. Aber das, was ihr behauptet, ist pure
Fantasie. Ich habe nicht das Geringste damit zu tun, dass Gaston
Lund in diese grauenvolle Situation geriet. In meinem Haus hat sich
nichts anderes abgespielt als das, was ich vorhin geschildert
habe.«
Ingimundur blickte sie ungläubig
an. »Na schön. Dann erzähl uns das jetzt alles noch
einmal, und zwar bis ins kleinste Detail.«
»Professor Lund klopfte bei uns
an und trug sein Anliegen vor. Ich war zur Tür gegangen und
hatte ihn sofort erkannt. Mich erkannte er natürlich nicht,
denn ich war noch ein kleines Mädchen, als ich mit meinem
Vater in Kopenhagen lebte. Ich wollte ihm gerade die Tabletten
aushändigen, als er durch die Tür im Wohnzimmer auf
einmal meinen Vater sah. Sie haben einige Augenblicke gebraucht, um
zu überlegen, wie sie mit diesem unerwarteten Wiedersehen
umgehen sollten, aber dann fielen sie sich in die Arme, und alles
war wieder wie zu Beginn ihrer Bekanntschaft. Sie hatten viel zu
bereden, und die Zeit war knapp. Lund sagte meinem Vater, dass er
die Bibliothek besucht hatte, um das Flatey-Rätsel zu
lösen. Er hatte die Antworten zu allen Fragen, aber er war
nicht imstande, sie mit dem Code zu überprüfen. Er wusste
nicht, was er damit anfangen sollte. Mein Vater hatte viele Stunden
in der Bibliothek verbracht und sich mit diesen Buchstabenreihen
befasst, die den Lösungsschlüssel darstellen. Er hatte
herausgefunden, dass sich aus diesen Buchstaben in einer bestimmten
Reihenfolge ein Satz ergibt. Wenn man die Buchstaben aus den 39
Fragen in dieselbe Reihenfolge setzt, bilden sie die letzten beiden
Zeilen in dem Gedicht, und somit die Lösung des Rätsels,
Ænigma Flateyensis. Das beschäftigte Lund derart, dass
er beschloss, noch einmal in die Bibliothek zu gehen und seine
Antworten mit dieser Methode zu überprüfen. Mein Vater
lieh ihm seinen Schlüssel zur Bibliothek. Da konnte man aber
schon in der Ferne das Postschiff sehen, das auf dem Rückweg
von Brjánslækur war, viel Zeit hatte er also nicht.
Danach haben wir ihn nicht mehr gesehen und gingen deswegen davon
aus, dass er das Postschiff erreicht hatte. Ich ging später am
Abend noch zur Bibliothek, und da war das Haus unverschlossen, und
der Schlüssel lag auf dem Tisch.«
»Aber er hat das Postschiff
dann wohl doch nicht erreicht?«, sagte
Ingimundur.
»Nein, offensichtlich nicht. Er
ist zur Bibliothek gelaufen, hat sich hingesetzt und angefangen,
die Buchstaben neu zu ordnen. Das Postschiff näherte sich
rasch, und zum Schluss hat er nicht gewagt, länger zu bleiben.
Das Letzte, was er tat, war, den Lösungsschlüssel auf
einen Zettel zu schreiben, um später weitermachen zu
können. Diesen Zettel haben wir in seiner Tasche gefunden. Das
war aber gegen die Spielregeln.«
»Der Aberglaube besagt, dass es
Unglück bedeutet.«
»So heißt es, aber ich
glaube nicht an so etwas. Ich persönlich halte dieses
Rätsel für ein müßiges, aber unschuldiges
Spiel. Wenn man es aber allen Ernstes mit Tod und Unglück in
Verbindung bringt, geht das meiner Meinung nach zu
weit.«
*
»32. Frage: Fehlt Ivar. Zweiter
Buchstabe.
Ivar der Knochenlose herrschte
lange über England. Er hatte keine Kinder, denn es hieß,
dass er keine Begierde kannte, aber an Klugheit und Grausamkeit
mangelte es ihm nicht. Er starb in hohem Alter in England und wurde
dort in einem Hügel bestattet .
Die Antwort ist Begierde, und der
zweite Buchstabe ist E.«
Neunundvierzig
Nachmittags erwartete man den ersten vorläufigen Bericht des
Gerichtsmediziners über seine Autopsie von Bryngeirs Leiche,
die frühmorgens in Reykjavík angekommen war. Dagbjartur
wurde losgeschickt, um die Ergebnisse direkt aus seiner Hand
entgegenzunehmen. Es war nicht immer einfach, diese medizinische
Ausdrucksweise zu verstehen. Falls es Unklarheiten gab, war es
besser, die Erklärungen aus erster Hand zu bekommen. Manchmal
konnte man diesen Experten auch dazu bringen, sich ohne Gewähr
über Dinge zu äußern, die er niemals zu Papier
gebracht hätte, oder höchstens erst nach Untersuchungen,
die viele Wochen in Anspruch genommen hätten. Es schien
eigentlich kein Zweifel daran zu bestehen, was die Todesursache des
Reporters gewesen war, aber es musste trotzdem offiziell
bestätigt werden. Es konnten auch andere Informationen zutage
kommen, beispielsweise die körperliche Verfassung des
Täters betreffend, ob er
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