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Das Raetsel von Flatey

Das Raetsel von Flatey

Titel: Das Raetsel von Flatey Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Arnar Ingólfsson
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wenn ich
Aufsätze schreiben musste. Der Stoff war mir so gut vertraut,
denn ich hatte ja all den Vorträgen meines Vaters gelauscht,
und noch dazu in fünf Sprachen, und es ging mir schnell von
der Hand, ein vorzeigbares Referat über damit verbundene
Themen zu schreiben. Gerade dieses galt sogar als besonders gut und
wurde in der Schulzeitung veröffentlicht. Bryngeir war in
diesem Winter in der Abiturklasse, und er war völlig auf
Literatur fixiert. Zu dieser Zeit wälzte er nächtelang
die gedruckte Ausgabe von Flateyjarbók, und als er mein
Referat gelesen hatte, wollte er mich unbedingt näher kennen
lernen. Mir war das eigentlich nicht recht, denn ich war mit Einar
verlobt, wie ich bereits erwähnt habe. Wir begegneten uns in
Kopenhagen, als ich fünfzehn war und er siebzehn. Erst waren
wir gute Freunde, aber als wir älter wurden, verliebten wir
uns. Seine Eltern lebten in Kopenhagen, um dort zu studieren
beziehungsweise zu arbeiten. Ich habe euch schon gesagt, dass mein
Vater und ich zur gleichen Zeit nach Island zurückgekehrt sind
wie Einar und seine Familie. Er landete damals in der gleichen
Klasse wie Bryngeir und stand kurz vor dem
Abitur.« 
    »Du sagst, dass er
verunglückt sei?«
    »Ja, er starb bei einem
tragischen Unfall.«
    »Was ist
passiert?«
    »Einar wurde die Mitgliedschaft
in einem ziemlich ausgefallenen Kulturverein angeboten, der sich
›Die Freunde der Jomswikinger‹ oder einfach
›Jomswikingerverein‹ nannte. Das war eigentlich schon
so etwas wie ein ziemlich versnobter und blasierter Geheimbund
für junge Männer. Neue Mitglieder wurden mit einer
idiotischen Zeremonie in den Verein eingeführt. Bei diesen
Weihen passierte ein grauenvoller Unfall, und Einar
starb.«
    »Was für ein
Unfall?«
    »Diese Weihen waren so, dass
die Hinrichtung der Jomswikinger nach der Schlacht gegen den
Ladejarl Hakon inszeniert wurde. Die Mitglieder deklamierten die
Gespräche zwischen den Jomswikingern und den Soldaten des
Jarls wie ein Theaterstück. Der Novize musste sich dann unter
ein Schwert beugen, mit dem zugeschlagen wurde. Er sollte im
letzten Augenblick den Kopf zurückziehen, genau wie es Sveinn
Búason in der Saga gemacht hat. Das war im Grunde genommen
eine ganz harmlose Pantomime, auch wenn das Schwert scharf und
schwer war. Bei der Initiierung von Einar waren aber alle
ungewöhnlich betrunken, irgendwas ging schief, und das Schwert
traf ihn
voll.«         
     
    »Wer hat das Schwert
geführt?«
    »Weißt du das
nicht?«
    »Doch, aber ich möchte,
dass du es mir sagst.«
    Jóhanna schaute den
Kriminalbeamten lange an, ohne eine Miene zu verziehen, und sagte
schließlich: »Es war Kjartan, der jetzige
Bevollmächtigte des Bezirksamtmanns in
Patreksfjörður.«
    Ingimundur lächelte schwach.
»Ja, es war Kjartan, und er wurde wegen Totschlags verurteilt
und hat einige Jahre im Gefängnis gesessen. Es dürfte
nicht einfach für dich gewesen sein, ihn hier zu treffen, den
Mann, der deinen Verlobten getötet
hat?«
    Jóhanna schwieg
lange.
    »Ja, es war schwierig, aber
nicht in der Weise, wie du glaubst«, sagte sie
schließlich.
    »Auf welche Weise
denn?«
    »Das ist eine lange
Geschichte.«
    »Ich bin sehr für lange
Geschichten zu haben.«
    »Also gut. Dann sollst du eine
lange Geschichte bekommen. Es ging mir außerordentlich nahe,
als Einar starb. Er war auch ein sehr begabter und ein sehr lieber
Junge. Ich sage das nicht nur wegen irgendeiner Jugendliebe. Auch
heute noch als erwachsener Mensch sehe ich unser Zusammenleben vor
mir und kann mich an ganze abendfüllende Gespräche
erinnern. Es gibt keinen Tag, an dem ich ihn nicht vermisse, seit
ich ihn verloren habe.«
    Jóhanna schwieg lange und
setzte ihre Erzählung erst fort, als Ingimundur ihr ermunternd
zunickte.
    »Ja, und dann kam die
Beerdigung und die polizeiliche Ermittlung und zum Schluss der
Prozess, und Kjartan wurde verurteilt. Es hat mir eine gewisse
Befriedigung verschafft, ihn zu hassen, und ich habe mich gefreut,
als er ins Gefängnis kam. Ich konnte mich natürlich in
diesen Monaten nicht auf die Schule konzentrieren, aber trotzdem
habe ich mich an den meisten Tagen hingeschleppt. Da war dann
Bryngeir, der es übernahm, mich zu trösten. Ich fand ihn
feinfühliger, als ich nach unserer ersten Bekanntschaft
gedacht hatte, und ich war sehr empfänglich dafür, dass
jemand sich um mich kümmerte. Mein Vater war mir in dieser
Situation keine Stütze. Die einzige Stelle, die er nach dem
Kopenhagener Fiasko bekommen

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