Das Raetsel von Flatey
hatte, war ein Lehrauftrag an einer
Mittelschule, was natürlich eine komplette Vergeudung seiner
Bildung und seiner Fähigkeiten war. Mein Vater wurde deswegen
depressiv und hatte angefangen zu trinken. Nach dem Abitur fing
Bryngeir im Herbst an, Literaturwissenschaften zu studieren. Ich
ging weiter aufs Gymnasium, und im darauf folgenden Winter wurden
wir ein Paar. Wir mieteten eine kleine Kellerwohnung und lebten
zusammen. Das dauerte ganze vier Jahre und hat mich fast
umgebracht, bevor endlich Schluss war.«
»Wieso
das?«
»Nachdem ich mit Bryngeir
zusammengezogen war, begann er bald, mir Daumenschrauben anzulegen
und mein Leben jede einzelne Minute des Tages zu dominieren. Ich
durfte zwar zu den feststehenden Zeiten zur Schule gehen, aber um
Hausarbeiten und Referate durfte ich mich nur dann kümmern,
wenn er mich nicht brauchte, für Sex beispielsweise und alles
was ihm so einfiel. Ich durfte mich nicht allein mit anderen
treffen, er musste immer dabei sein. Ich durfte nur solche
Meinungen haben, mit denen er einverstanden war. Ich durfte keine
Entscheidungen in Bezug auf mein eigenes Leben fällen, er
musste immer alles bestimmen. Als ich das Abitur bestanden hatte,
beschloss er, da mir das Lernen nicht schwer fiel, dass ich Medizin
studieren sollte, weil ich als ausgebildete Gehirnchirurgin
später so gut verdienen würde. Er hat nie Gewalt
angewandt, aber mit Worten manipulierte er mich wie ein Musiker
sein Instrument. Mit ein paar Sätzen schaffte er es, mir das
Gefühl zu geben, ich sei das Beste, was ihm widerfahren war,
um mich dann mit den nächsten Worten in den Abgrund zu
stürzen. Letzteres trat schließlich immer mehr in den
Vordergrund, denn er trank viel, und unsere finanzielle Situation
war mehr als kritisch. Plötzlich aber zerriss eine Saite in
dem Instrument, ich bekam im vierten Semester Medizin mitten in
einer Vorlesung einen Nervenzusammenbruch. Ich kam ins Krankenhaus
und wurde in die Psychiatrie eingeliefert. Ein ungewöhnlich
feinfühliger Psychiater merkte gleich im ersten Gespräch,
was los war, und machte mir klar, dass diese Beziehung
lebensgefährlich war. Als ich entlassen wurde, ging ich direkt
nach Hause zu Papa. Ihm gelang es, sich aus seinem Selbstmitleid
aufzuraffen und mich wieder hochzupäppeln. Bryngeir versuchte
mit allen Mitteln, mich wieder in seine Klauen zu bekommen, aber
ich war sozusagen nach vier Jahren Bewusstseinsstörungen
endlich wieder bei klarem Verstand. Nach vielen Wochen akzeptierte
er aber, dass unsere Beziehung zu Ende war, und er gestattete mir,
in unsere Wohnung zu kommen, um meine Kleider und meine Bücher
zu holen. Mir war zwar nicht ganz wohl dabei, denn er hatte mir
häufig genug alles Mögliche angedroht, aber ich war mir
sicher, dass er nicht Hand an mich legen würde. Und nach der
psychiatrischen Behandlung glaubte ich, dass seine Worte mich nicht
mehr verletzen könnten. Deswegen ging ich allein zu ihm. Das
war ein schwerer
Fehler.«
Jóhanna griff nach dem Glas
Wasser, führte es an die Lippen und hielt es dort eine ganze
Zeit. Endlich nahm sie einen kleinen Schluck und stellte es dann
wieder auf den Tisch.
»Als ich meine Sachen
zusammengepackt hatte und gerade die Wohnung verlassen wollte, bat
Bryngeir mich, noch etwas zu bleiben und mit ihm zu reden. Er
sagte, dass er mir erzählen wollte, wie er mich zuerst
getroffen hatte. Er hatte mein Referat über Sneglu-Halli in
der Schülerzeitung gelesen, wie ich bereits erwähnt habe.
Er fand das irgendwie sexuell aufreizend, dass eine
achtzehnjährige Schülerin so einen Text verfassen konnte.
Er hat mich in der Schule gesucht und gefunden, und in dem
Augenblick, als er mich sah, beschlossen, dass er mich haben
müsste. Dass ich einen festen Freund hatte, störte zwar
diese Pläne ein wenig, aber dagegen wusste er Rat. Er sorgte
dafür, dass Einar die Mitgliedschaft im Jomswikingerverein
angeboten wurde, und als es zu den Weihen kam, besorgte er Alkohol
in rauen Mengen. Die Jungen waren deswegen alle stark betrunken,
als Einar seinen Kopf unter das Schwert halten musste. Bryngeir
stand direkt hinter ihm, und in dem Augenblick, als Einar den Kopf
zurückziehen wollte, um dem Hieb von Kjartan auszuweichen,
setzte er ihm das Knie in den Rücken, sodass er wieder nach
vorn fiel. Einar war auf der Stelle tot, und der Rest, was mich
betraf, war dann sehr einfach, da jetzt kein Verlobter mehr im Wege
stand. Das wollte Bryngeir mir spaßeshalber zum Abschied
erzählen. Obwohl ich glaubte, auf
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