Das Raetsel von Flatey
war
jetzt in Fahrt gekommen, und da war es am besten, sich bedeckt zu
halten.
»Die Wundränder sind nicht
geschwollen. Das hätte sogar ein Laie erkennen
können.«
»Das stimmt«, sagte
Dagbjartur, obwohl er völlig anderer Meinung war. Er war sich
ziemlich sicher, dass keiner seiner Kollegen derartige Indizien
erkannt hätte.
»Wundränder gelblich braun
und trocken. Keine Blutungen im umliegenden Gewebe. Das sind
deutliche Hinweise darauf, dass der Mann nicht am Leben gewesen
ist, als ihm diese Verletzungen zugefügt
wurden.«
»Aber wie ist er dann
gestorben?«, fragte Dagbjartur.
»Ich habe einen Fleck im Nacken
gefunden, der von Blutungen in der Kopfhaut herrührt. Das
ließ darauf schließen, dass er einen Schlag auf den
Kopf erhalten hat, aber keinen tödlichen. Eher, dass er leicht
betäubt war. Die Todesursache ist aber aller
Wahrscheinlichkeit nach
Ertrinken.«
»Ertrinken?«
»Ja. Tod durch Ertrinken ist
nicht ganz einfach zu analysieren – und erst recht nicht,
wenn die Lungen so traktiert worden sind wie in diesem Fall. Aber
trotzdem sind alle Anzeichen für Tod durch Ertrinken
vorhanden, wenn man nur nach ihnen sucht.« Magnús las
vor: »Schaum in der Luftröhre, larynx, und in den
Verästelungen der Bronchien, Trachesa und
bronchi.«
Er hörte auf zu lesen und
blickte Dagbjartur über die Brille hinweg an. »Das
könnten auch Hinweise auf Herzversagen oder
Kohlenstoffvergiftung sein, deswegen musste ich andere
Ausschlussverfahren einbeziehen. Danach habe ich also nach anderen
Anzeichen für Tod durch Ertrinken
gesucht.«
Dagbjartur nickte und versuchte,
interessiert zu wirken.
Magnús las weiter:
Ȇberdehnung der Lungen, hyperinflatio pulmonum, mit
Einbuchtungen, indentationes, von den Rippen herrührend.
Lungenödem. Flüssigkeit in beiden Brusthöhlen,
hydrothoraces bilaterales. Flüssigkeit an der
Schädelbasis und in den ethmoidalen und sphenoidalen sinera.
Bluterguss, congestio, in den Knochen rings um die
Gehörgänge. Das sind natürlich unterschiedlich
zuverlässige Hinweise, aber alles zusammengenommen bin ich mir
eigentlich absolut sicher.«
Dagbjartur war völlig verwirrt
und fragte nach einigem Überlegen: »Ist der Mann also
erst niedergeschlagen und dann ertränkt und zum Schluss auch
noch aufgehackt worden?«
»Das weiß ich nicht. Die
Blutuntersuchung hat ergeben, dass der Mann stark betrunken war.
Ethanol im Blut 3,02 Promille und im Urin 2,56. Er kann hingefallen
sein und sich diese Verletzung im Nacken schon einige Zeit vorher
zugezogen haben.«
Dagbjartur dachte über dieses
Ergebnis nach. »Ist der Mann im Meer ertrunken?«,
fragte er.
Magnús dachte nach.
»Wäre das möglich gewesen?«
»Ja, das wäre
denkbar«, antwortete Dagbjartur. »Das Ganze ist auf
einer kleinen Insel mit viel Meer rundherum
passiert.«
Magnús drehte sich um und ging
zwei Schritt auf den einen Tisch zu. Er lüftete vorsichtig das
Tuch und bedeutete Dagbjartur, näher zu treten. Jetzt sah der
Polizist Bryngeir zum ersten Mal. Die helle Augenbraue war sehr
auffällig. Magnús beugte sich hinab, um die Augen der
Leiche zu begutachten. Er erklärte: »Nein, der ist wohl
kaum im Meer ertrunken. Salzwasser reizt die Augenschleimhäute
stark, und die müssten viel röter sein, als sie sind. Der
Mann ist wahrscheinlich in Süßwasser
ertrunken.«
Magnús deckte die Leiche
wieder zu und sagte: »Dem kann man noch hinzufügen, dass
der Mann an Leberzirrhose litt und mit Sicherheit nur noch ein paar
Jahre zu leben gehabt hätte, wenn er das Trinken nicht
drangegeben hätte.«
»Da ist eins, was ich nicht
verstehe«, sagte Dagbjartur. »Im Bericht meiner
Kollegen, die auf die Insel gefahren sind, heißt es, dass die
Leiche am Tatort sehr blutig gewesen sei. Aber wenn er bereits tot
war, als er aufgeschnitten wurde, dann hätte es doch gar keine
Blutungen geben dürfen, nicht wahr?«
»Genau«, sagte
Magnús, und in seiner Stimme schwang so etwas wie
Anerkennung mit. »Deswegen deutet alles darauf hin, dass er
zum Zeitpunkt seines Todes auf dem Rücken lag, vielleicht
sogar mit den Beinen in der Luft. Das Blut hat sich alles im
Rückenbereich angesammelt und wurde durch die Schnitte
herausgelassen. Auf diese Weise lässt sich erklären,
wieso äußerlich so viel Blut an der Leiche
war.«
»Kannst du dir irgendeine
Situation vorstellen, wie er in einer solchen Position ertrinken
konnte?«
»Da habe ich keine
Erklärung, die ich guten Gewissens zu Papier bringen
könnte.«
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