Das Raetsel von Flatey
das Schlimmste gefasst zu
sein, mit diesen Eröffnungen wurde ich nicht fertig. Ich
versuchte, zur Polizei zu gehen, aber die hielten mich für
hysterisch, und Bryngeir konnte sie davon überzeugen, dass ich
mich nur an ihm rächen wollte, weil er unsere Beziehung
beendet hatte. Aussage gegen Aussage also, und er hatte schon immer
eine sehr überzeugende Art. Ich konnte dankbar sein, dass ich
nicht wegen Verleumdung angezeigt und angeklagt wurde. Ich kann
nicht beschreiben, wie mir danach zumute war. Jede Erinnerung an
die gemeinsamen vier Jahre war wie eine grauenhafte Vergewaltigung.
Ich ging wieder zum Psychiater und war jahrelang in Behandlung, und
es gelang ihm, mich von diesem Trauma zu befreien. Der Schmerz ist
natürlich immer noch da, aber ich lasse mich nicht mehr von
ihm überwältigen und mein Leben
zerstören.«
Jóhanna schwieg eine Weile,
trank einen Schluck Wasser und fuhr dann fort, ohne die
Polizeibeamten anzublicken: »Das Merkwürdige war, dass
ich trotzdem weiter Medizin studierte. In einem hatte Bryngeir
nämlich Recht gehabt, dieses Studium fiel mir nicht schwer,
und eine Methode, um auf andere Gedanken zu kommen, war, sich voll
und ganz auf das Studium zu konzentrieren. Aber ich gab den
Gedanken an Gehirnchirurgie auf und studierte stattdessen
Psychiatrie.«
Jóhanna schwieg wieder eine
Weile und blickte über den Tisch. Endlich fuhr sie fort:
»Einige Jahre nachdem ich die Beziehung zu Bryngeir beendet
hatte, bewarb Papa sich um eine Stelle an der Universität.
Nachdem feststand, dass er die Stelle bekommen würde, wurde er
benachrichtigt, und da war der Teufel wieder auf einen wunden Punkt
gestoßen. Bryngeir hatte sein Studium schon ziemlich
früh abgebrochen und verdiente sich damals seinen
Lebensunterhalt mit journalistischen Schreibereien. Als wir noch
zusammenlebten, hatte ich ihm natürlich alles über meinen
Vater erzählt. Jetzt schrieb er einen Artikel, in dem er die
fristlose Entlassung meines Vaters in ganz entstellender Weise
aufrollte. Es erschien undenkbar, dass ein ehemaliger
Nazisympathisant an der Universität unterrichtete. Die
Stellenvergabe wurde rückgängig gemacht, und Papa musste
mit ansehen, wie die letzte Chance seines Lebens zerstört
wurde. Er brach zusammen und landete in einer psychiatrischen
Anstalt.«
Jóhanna gab zu verstehen, dass
die Geschichte zu Ende sei.
»Und wie kommt man als
Psychiaterin zu einer Stelle als Amtsärztin auf dem
Land?«, fragte Lúkas.
»Als ich nach der
Spezialausbildung wieder nach Island zurückkam, hatte mein
Vater Krebs bekommen. Ich wollte ihn selbst pflegen, aber ich
musste natürlich auch arbeiten, um unseren Lebensunterhalt zu
sichern. Deswegen beschloss ich, mich um die erste beste ruhige
Stelle auf dem Land zu bewerben, die frei würde.
Zufälligerweise war es die Stelle hier auf Flatey, und
für uns war das in jeder Hinsicht eine optimale Lösung.
Ich war noch nie hier gewesen und hatte nie darüber
nachgedacht, dass dieser Ort durch Flateyjarbók in
irgendeiner Verbindung zu meinem Leben stand. Uns ist es hier gut
gegangen. Ich konnte meinem Vater die notwendigen Psychopharmaka
verordnen, sodass er seelisch einigermaßen im Gleichgewicht
war. Als der Krebs in ein fortgeschrittenes Stadium eingetreten
war, bedurfte es auch einer komplizierten Medikamentation, um die
Schmerzen zu lindern. Der Tod war ihm zum Schluss
hochwillkommen.«
»Was ging in dir vor, als du
Bryngeir hier begegnet bist?«
»Ich bin ihm nicht begegnet und
hatte keine Ahnung, dass er auf Flatey war. Ich sah ihn erst, als
Grímur mich auf den Friedhof bestellte. Ich war ziemlich
erstaunt.«
»Ziemlich
erstaunt?«
»Ja. Bryngeir war schon immer
von dieser Sitte unserer Vorfahren fasziniert, seinem Gegner einen
Blutadler auf den Rücken zu ritzen. Es war ein
merkwürdiger Zufall, ihn in genau diesem Zustand zu
sehen.«
»Du wusstest also sofort, was
Sache war?«
»Ich habe so etwas
natürlich noch nie gesehen, aber die Beschreibungen in
Flateyjarbók habe ich gut in Erinnerung. Es war ziemlich
eindeutig, was dort geschehen war.«
»Es gibt eine Zeugenaussage,
die besagt, dass Bryngeir vorhatte, zu dir zu kommen, am Abend
bevor er ermordet wurde.«
»Das hat er nicht getan.
Allerdings war ich auch nicht zu Hause, deswegen weiß ich
nicht, ob er versucht hat, mich zu treffen.«
»Wo warst du an dem
Abend?«
»Ich habe einen Spaziergang
unternommen und bin anschließend in die Bibliothek gegangen,
um zu lesen.«
»Hast du
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