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Das Rätsel

Titel: Das Rätsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Flüsterton zu Cocktails, zum Essen und ins Kino einlud – egal, was, wenn es ihm nur Gelegenheit gab, ihr zu gestehen, dass sie seine einzige wahre Liebe sei. Sie fand seine Avancen zu gleichen Teilen schmeichelhaft und lästig, und so gab sie ihm einen Korb nach dem anderen, ohne ihn ganz zu entmutigen, auch wenn sie sich einschärfte, dass sie auf jeden Fall beabsichtigte zu sterben, bevor sie dem Bibliothekar sagen musste, er solle sie ein für alle Male in Ruhe lassen.
    Sie las nur Klassiker, mindestens zwei pro Woche. Dickens, Hawthorne, Melville, Stendhal, Proust, Tolstoi und Dostojewski. Griechische Tragödien und Shakespeare verschlang sie geradezu. Wenn überhaupt, so führten sie ihre Vorstöße in die Moderne höchstens bis Faulkner und Hemingway – zu Letzterem aus einer Art Loyalität zu den Keys und weil ihr gefiel, was er über das Sterben zu sagen hatte. In seinen Büchern hatte er dem Tod – wie verkommen und schmutzig er auch sein mochte – stets eine romantische, heroische Qualität abgewonnen, und das gab ihr Mut, auch wenn sie wusste, dass es nur Fiktion war.
    Sobald sie ihre Bücher hatte, verabschiedete sie sich von dem Bibliothekar, wobei es sie jedes Mal einige Mühe kostete, sich loszueisen und seine letzten flehentlichen Bitten abzuwehren. Anschließend eilte sie noch eine sonnendurchflutete Nebenstraße entlang zu einer alten, verwitterten Baptistenkirche. Im Vorgarten des weißen Schindelbaus stand eine einsame hohe Palme, zu hoch, um viel Schatten zu spenden, dafür aber mit einer angesplitterten Holzbank über den Wurzeln. Diana wusste, dass der Chor gerade proben würde und dass dieStimmen aus dem dunklen Kirchenraum wie eine Brise nach draußen bis zu ihrer Bank herüberwehten, wo sie dann saß, sich ausruhte und lauschte.
    Neben der Bank befand sich ein Schild:
     
    BAPTISTENKIRCHE DER NEUEN KAVALLERIE
GOTTESDIENSTE: SONNTAG, 10:00 und 12:00 UHR
BIBELSTUNDE: 9:00 UHR
KOMMENDE PREDIGT:
WIE WIR JESUS ZU UNSEREM BESTEN FREUND
MACHEN KÖNNEN
REV. DANIEL JEFFERSON, PREDIGER
     
    In den letzten Monaten war der Prediger mehrfach herausgekommen, um Diana davon zu überzeugen, dass es in der Kirche viel sicherer, bequemer und kühler sei und dass niemand etwas dagegen hätte, wenn sie dort den Proben beiwohnte. Jedes Mal hatte sie dankend abgelehnt. Sie liebte es, den Stimmen zu lauschen, wenn sie sich draußen zur sengenden Sonne erhoben. Sie genoss es, wenn sie sich anstrengen musste, um die Worte zu verstehen. Sie wollte nicht, dass ihr jemand von Gott erzählte, was der Prediger, offenbar ein freundlicher Mensch, unweigerlich versuchen würde. Vor allem wollte sie ihn nicht verletzen, indem sie sich weigerte, ihn anzuhören, wie ehrlich er es auch meinte. Sie wollte einfach nur der Musik zuhören, da sie festgestellt hatte, dass sie ihre Schmerzen vergaß, solange sie sich auf die freudigen Klänge des Chors konzentrierte.
    Für sie war das ein kleines Wunder.
    Pünktlich um drei Uhr nachmittags waren die Proben zu Ende. Diana erhob sich dann von ihrer Bank und ging langsam nach Hause. Die Regelmäßigkeit, mit der sie diesen Ausflugunternahm, die immer gleiche Route und ihr Schneckentempo machten sie, wie sie sehr wohl wusste, zu einer offensichtlichen und halbwegs lohnenswerten Zielscheibe. Dass sie bisher noch kein Dieb, der auf ihr bescheidenes Geld, und kein Junkie, der auf ihre Schmerzmittel aus war, entdeckt und ermordet hatte, war eigentlich erstaunlich und wahrscheinlich das zweite Wunder in Verbindung mit ihrem wöchentlichen Ausgang.
    Zuweilen ließ sie sich ein wenig gehen und hing der Vorstellung nach, dass es weniger beängstigend wäre, von einem Herumtreiber mit gierigem Blick oder einem Drogensüchtigen niedergemetzelt zu werden, als am Leben zu bleiben und sich in teuflischer Grausamkeit von ihrer Krankheit langsam zu Tode foltern zu lassen. Sie fragte sich, ob ein kurzer schrecklicher Moment nicht besser sei als die sich endlos hinziehenden Qualen ihrer Krankheit. Sie entdeckte in ihrer Haltung eine geradezu berauschende Freiheit. Sie blieb am Leben, bestand darauf, ihre Medikamente zu nehmen und sich jeden wachen Augenblick innerlich gegen die Krankheit aufzulehnen. Sie vermutete, dass dieser Kampfgeist von einem Pflichtgefühl herrührte und dem unbeirrbaren Wunsch, ihre beiden Kinder, auch wenn sie schon erwachsen waren, nicht in einer Welt allein zu lassen, der niemand mehr zu trauen schien.
    Sie wünschte sich, eins von beiden hätte ihr ein Enkelkind

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